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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Ich kann einfach nicht verstehen, warum Wilson immer noch auf Neutralität pocht. Nicht nach dieser … dieser … «
    » Nach dieser frevelhaften Tat! « , beendete Townsend den Satz für ihn. Er wirkte immer noch ruhig, unbeeindruckt, berechnend, aber es war klar zu sehen, dass auch er aufgebracht war.
    Harlan saß einfach nur da, wie benommen vor Schreck. Es war ein Schock, der ihm in seiner Vertrautheit fast willkommen war. Im Grunde konnte sich Harlan gar nicht mehr erinnern, wie es vor diesem Schock gewesen war. Ein eleganter Ozeandampfer, gesunken. Diesmal torpediert von einem deutschen U-Boot. Männer. Frauen. Kinder. Kaum dreißig Minuten hatte es gedauert, so stand es in der Zeitung. Insgesamt weniger als eine halbe Stunde.
    Seine Augen weiteten sich, als er sich vorstellte, mit welcher Wucht die Explosion das Schiff bis in die Spanten erschüttert hatte, wie sich das Deck scharf zur Seite neigte und sich auf einmal wie ein schreckliches, schwer atmendes Seeungeheuer unter den Füßen der Passagiere bewegte. Harlan hatte die Schreie der Fahrgäste im Ohr, die verzweifelt versuchten, sich in höhere Bereiche des Schiffes zu retten, hörte, wie Tische umstürzten, Glas zersplitterte. Mit vollkommener Klarheit sah er die Aufregung und die Panik vor sich, mit der die Leute sich an die Rettungsboote klammerten, wie sie übereinander hinwegtrampelten, wie sich eines der Boote aus seiner Verankerung löste und mit einem gewaltigen Krachen von berstendem Glas im Speisesaal landete.
    » Wurde denn jemand gerettet? « , hörte er sich selbst fragen. Irgendwo mitten in dem Bild, das er vor sich sah – dem Bild, das ihn bis in den Schlaf verfolgte und ihn mit eisigem Schrecken erfüllte –, standen seine Schwester und Mutter, die Arme umeinandergeschlungen, die Finger in ihre Kleider gekrallt, die Gesichter verweint, während eiskaltes Wasser wie eine leckende Zunge auf ihre Füße zuschoss.
    » Irgendjemand? « , fragte er noch einmal. » Wurde jemand gerettet? «
    Die jungen Männer gingen auf seine Frage gar nicht ein, sondern übertönten sich förmlich mit ihren selbstgerechten, wütenden Kommentaren, verkündeten lauthals, wie denn nun ihrer Meinung nach mit den Deutschen zu verfahren sei, jetzt, da Amerika in den Krieg eintreten würde.
    Weiteres Fußgetrappel, und Rawlings stand an der Schwelle zum Kartenzimmer, seine Pfeife in der Hand. » Leute, habt ihr schon das Neueste gehört? « , rief er, bevor er Harlan entdeckte.
    Ein frostiges Schweigen legte sich auf die Runde, und die Männer am Spieltisch wechselten rasche, wissende Blicke. Harlan legte die Hände auf die Armlehnen seines Stuhls, packte sie, schluckte, und eine Mischung aus Schuldgefühl und Beklemmung brodelte in ihm hoch. Rawlings machte einen Schritt zurück, als hätte er es sich anders überlegt und wolle den Raum doch nicht betreten. Alle warteten, beobachteten und fragten sich, wer wohl als Erster etwas sagen würde.
    Ein Schatten huschte über Rawlings’ Gesicht, und er wischte sich mit einer Hand über die Augen. Dann schob er sich entschlossen die Pfeife zwischen die Zähne, steckte die Hände in die Hosentaschen und ging auf Harlan zu. Harlan ließ sich noch tiefer in seinen Stuhl sinken und beobachtete argwöhnisch das Näherkommen des jungen Mannes.
    Dann hatte Rawlings Harlan erreicht, und die anderen jungen Männer standen wie auf Kommando auf und traten den Rückzug an, um den beiden Streithähnen Platz zu machen. Rawlings räusperte sich und schaute auf seine Schuhe hinab.
    » Du, hör mal, Allston « , begann er.
    Bickering hustete, nervös vor Anspannung. Peter, der nicht näher mit der Gruppe bekannt war, war perplex und wollte fragen, was denn eigentlich sei, aber Townsend brachte ihn mit einem kurzen Zischen zum Schweigen. Mr Backenbart, wer auch immer er war, verfolgte das Geschehen wie der Zuschauer eines Baseballspiels.
    » Rolly « , begrüßte Harlan seinen Widersacher und sah ein wenig trotzig zu ihm auf.
    Der andere junge Mann hielt inne und warf einen vorsichtigen Blick auf Harlans Gesicht. » Wie geht’s deiner Lippe? Heilt sie ordentlich? «
    » Schätze schon « , räumte Harlan ein.
    Rawlings nickte, offenbar erleichtert. Seine Hand machte sich an der Pfeife in seinem Mund zu schaffen, die, wie Harlan bemerkte, als er sie herauszog, um lange den Inhalt des Pfeifenkopfes zu studieren, am Mundstück mehr zerkaut war als sonst.
    » Freut mich zu hören « , sagte Rawlings schließlich. » Freut mich zu hören. «

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