Die Frauen von der Beacon Street
Farntopf hervor in den Raum schubste und inmitten einer Gruppe von wildfremden Männern postierte. Helens Herz klopfte ihr bis zum Hals, und eine klebrige Schweißschicht bedeckte ihren ganzen Körper.
» Ach, da sind Sie ja! « , sagte da eine gut gelaunte Stimme an ihrem Ohr. » Ich habe mich schon gefragt, ob ich Sie hier treffe. «
Helen zuckte zusammen und drehte sich um. Direkt neben ihr stand ein eleganter Mann, der aussah wie Anfang dreißig. Er war groß und wirkte vornehm, sein Haar war länger, als es der Mode entsprach, und sein Backenbart reichte fast bis zum Kinn. Seine Augen waren von einem beunruhigenden Blassblau und von vielen Fältchen umgeben, die offenbar die Sonne dorthin gebrannt hatte. Er lächelte zu ihr herab.
» Mich? « , fragte sie und trat einen Schritt zurück. » Sind wir uns schon einmal begegnet? «
» Ich glaube nicht. Aber ich muss mich für die nicht sehr passende Vorstellung entschuldigen. Mein Name ist Harlan Plummer Allston junior. « Er machte eine Verbeugung, die einen Hauch selbstironischer Ernsthaftigkeit ausstrahlte. » Aber natürlich nennt mich niemand so. «
Sie lachte, ohne es eigentlich zu wollen. Er war alt, aber irgendwie lustig. » Ach! Und wie nennt man Sie? « , fragte sie.
» Lan « , antwortete er. » Und Sie heißen Helen, richtig? «
Sie schnappte nach Luft, so überrascht, dass ihr fast ein wenig schwindelig war. » Äh « , stammelte sie. » Ja. Ja, das stimmt. Ich bin Helen Edgell. «
» Dachte ich mir « , sagte er.
Sie betrachtete ihn, die Lippen leicht geöffnet vor Staunen. An diesem Lan Allston war definitiv etwas Beruhigendes. Die meisten anderen Männer im Raum kamen Helen arrogant vor, allzu bemüht, ihre Unzulänglichkeiten unter einer dicken Schicht Überheblichkeit zu verbergen. Sie blickte in seine Augen, sah darin eine Tiefe an Erfahrung, von der sie wusste, dass sie sie nie ergründen würde, was ihm einen Ernst verlieh, an dem es den anderen Männern mangelte. Und dieser Mann, dessen Ehrbarkeit Helen mehr erkämpft als einfach nur angeboren schien, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf sie.
» Sie haben noch nicht getanzt, richtig? « , fragte er und hielt ihr seine Hand hin. » Haben Sie Ihre Tanzkarte verloren? «
» Nein. Nein, hab ich nicht. Es ist … Wissen Sie, ich bin mir nicht sicher, wo ich sie habe « , erwiderte Helen. Sie legte ihre Hand auf die seine, ohne auch nur einen Moment zu zögern. Die Haut seiner Hand war rau und auf eine Weise windgegerbt, bei der Helen ein Schauder über den Rücken lief. Diese Hand gehörte zu einem Mann, der wesentlich weiter gekommen war als nur bis Framingham.
» Dann müssen wir das ändern « , entgegnete er mit einem Lächeln. Helen ließ sich mitten auf die Tanzfläche führen und mit einer solchen Leichtigkeit in den Armen dieses kräftigen Mannes herumwirbeln, dass sie mit urplötzlicher Klarheit wusste, das hier würde einmal ihr Mann werden.
» Helen? « Eleanor Widener stupste sie mit dem Finger an.
» Oh! « Wovon hatten sie doch gleich geredet? Ach, natürlich. Von Sibyl.
» Ihre Älteste. Sie sagten, sie sei ganz der Vater. «
» Richtig. « Helen hielt inne. Aber das war Sibyl wirklich. An ihr war etwas von der Gelassenheit, die den Allstons eigen war. Und eben diese unheimliche Charakterfestigkeit hatte Helen an Lan gespürt, an jenem ersten Abend, als sie ihn kennengelernt hatte. » Ich vermute, Sibyl hat ihres Vaters « , Helen suchte nach dem richtigen Wort, » Unverwüstlichkeit. Solche Menschen werden mit allem gut fertig. Mit fast allem jedenfalls. « Abermals hielt sie inne, und Eleanor beugte sich vor, wartete darauf, dass Helen weitersprach.
Die Musik wechselte, und einige Paare machten sich auf den Rückweg an die Tische, während eine ganze Schar von Kellnern den ersten Gang des Dinners servierte, beginnend beim Tisch des Kapitäns.
» Wo können sie denn bloß sein? « , fragte sich Helen laut und suchte die Menge nach Eulah und Harry ab. » Es wird doch wohl nichts passiert sein, oder? «
Eleanor Widener lachte. » Ganz bestimmt nicht, Helen. « Sie legte eine Hand auf Helens Unterarm. » Es gibt keinen Grund zur Sorge. Kein bisschen. «
ZWEIUNDZWANZIG
Back Bay, Boston, Massachusetts
7. Mai 1915
A ber das ist unmöglich! « , rief Sibyl aus. Ihr Magen schien ein ganzes Stück nach unten zu rutschen, so wie an jenem Sommernachmittag vor ein paar Jahren, als sie unklugerweise am Revere Beach mit der Achterbahn gefahren war. Dieses Schlingern und
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