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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Hände schlossen sich so fest um das Teeglas, dass die Oberfläche der Flüssigkeit bebte.
    Dann ein gleißender Blitz, so schnell, dass er ihn eher spürte als sah, und Toms Hand schoss vorwärts wie ein Aal, der aus einer Riffhöhle flitzt und sich einen vorbeischwimmenden Fisch schnappt. Ein roter Fleck erschien auf Johnnys Brust, und Tom trat zurück, das Gesicht zu einer triumphierenden Fratze verzogen. Johnnys Mund öffnete sich überrascht, und er sank auf die Knie, drückte die Hände auf den roten Fleck, der größer und größer wurde. Johnny streckte die Hände vorwärts, griff ins Leere und kippte dann nach vorne. Eine Staubwolke wirbelte auf, als sein Körper auf dem Boden auftraf.
    Es kam Bewegung in die Zuschauer, und Lannie konnte sich endlich befreien und kämpfte sich zu der Stelle vorwärts, wo Johnny auf dem Boden lag. Lannie kniete nieder, legte dem jungen Chinesen eine Hand auf den Rücken. Die anderen Männer wichen zurück, machten Platz. Lannie beugte sich hinab, rüttelte Johnny an der Schulter, doch der reagierte nicht.
    Er rüttelte noch einmal.
    Draußen in der Wirklichkeit riss Lannie erschrocken die Augen auf und flüsterte: » Wach auf. Du musst. « Dabei wusste er nicht, ob er damit den Johnny in den Teeblättern meinte oder sich selbst.
    Keine Reaktion von dem jungen Chinesen auf dem Boden. Lannie stand langsam auf, richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Sein Gesicht verzerrte sich, denn ihn erfüllte eine selbstgerechte Wut, die der Lannie der wirklichen Welt nie empfunden hatte.
    Er fuhr zu Tom herum, der, puterrot im Gesicht, die anderen Männer anschrie und zuerst auf ihn selbst und dann auf den Jungen am Boden zeigte. Die Menge teilte sich, als Lannie langsam auf den älteren Seemann zuging. Er trug ein Messer. Statt zu Johnnys Verteidigung zu dienen, schien es sich nun in ein Werkzeug der Rache verwandelt zu haben.
    » Ich kann nicht! « , rief Lannie überwältigt von Entsetzen aus.
    Mit einem Schluchzer schleuderte er das Teeglas von sich und warf sich auf den Bauch, barg das Gesicht in den Armen.
    » Yankee? « , fragte der junge Student.
    Lannie hörte es rascheln, während Johnny über die Bettkante lugte, dann herunterkletterte und sich zu ihm setzte. Lannie zitterte wie Espenlaub und sah nicht auf.
    » Lan? Alles in Ordnung mit dir? « , erkundigte sich der junge Chinese und legte behutsam eine Hand auf seine Schulter.
    Lannie schüttelte den Kopf, den er immer noch abgewandt hatte, damit Johnny sein Gesicht nicht sah.
    » Es tut mir leid « , sagte der junge Student zögernd. » Ich dachte, es würde dir mit deinem Kiefer helfen. Ich hätte nie gedacht, dass es dich so sehr treffen würde. Wirklich nicht. Wahrscheinlich hätte ich dich besser nicht hierhergebracht. «
    Lannie zitterte immer noch und versuchte, seine Schluchzer hinunterzuschlucken. Eine Welle des Heimwehs schwappte über ihn hinweg, so gewaltig, dass sie ihm den Atem raubte. Auf einmal fand er es schrecklich, in diesem fremden Land zu sein, umgeben von Menschen, die er nicht verstand. Er hasste das Schiff, und jeden, der darauf war. Er sehnte sich danach, zu Hause zu sein, unter seiner kuscheligen Bettdecke in seinem Zimmer unter dem Dach des Hauses an der Chestnut Street, wünschte sich, seine Schwester würde den Flur entlangpoltern und bei ihm an die Tür klopfen, und von unten käme das leise Singen seiner Mutter, die über ihre Näharbeit gebeugt war.
    Beim Gedanken an seine Mutter brachen in Lannie alle Dämme. Unter dem Schutz seines Armes, das Gesicht neben das Chronometer geschmiegt, trauerte Harlan Plummer Allston um sich selbst, um seine verlorene Kindheit, seine Einsamkeit und um all den Schrecken, den er aus seinem eigenen Ich heraufbeschworen hatte.
    » Lan « , versuchte Johnny es noch einmal. » Es ist nicht real, weißt du. Nichts davon ist wirklich. Hat es sich nicht verändert? «
    Lannie öffnete ein Auge.
    » Es hat sich verändert, stimmt’s? « , fragte Johnny.
    Lannie nickte und wischte sich die laufende Nase mit dem Handrücken ab, schmierte sich damit aber nur den Rotz auf den Ärmel seines ohnehin nicht mehr sauberen Leinenhemds.
    » Na also, komm schon. Kein Grund zur Sorge. Das ist alles nur eine Menge Mohnblumen-Blödsinn in deinem armseligen Yankee-Schädel. «
    » Es war … « Lannies Stimme wurde erneut zu einem Schluchzen. » Es war so viel schlimmer. Johnny, ich hab gesehen, wie … wie … « Er konnte den Satz nicht beenden, kniff die Augen zusammen, um die

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