Die Frauen von der Beacon Street
zu den großen Bällen und Empfängen im Winter einlud. Also folglich … vor drei Jahren?
Drei Jahre.
Nicht, dass man sie gar nicht mehr einlud. Doch es war eine allmähliche Veränderung eingetreten. Während jener ersten Ballsaisons hatte sie ganze Nächte durchgetanzt, ihre Tanzkarte, die sie sich zusammen mit einem winzigen goldenen Bleistift an ein Handgelenk gebunden hatte, war mit Namen von Tänzern vollgekritzelt, Runde um Runde wurde Walzer gespielt bis in die frühen Morgenstunden, wenn im Morgenzimmer das Frühstück serviert wurde, ganze Tabletts voller Rührei und Speck, gedünsteter Tomaten und frittierter Kabeljaubällchen. Dann stand sie oft im Schatten einer großen Porzellanvase, kratzte sich mit der Ecke ihrer Tanzkarte an der Unterlippe und blickte lachend in all die Gesichter der College-Studenten, die an ihr vorbeidefilierten. Die Nacht war für den Spaß gemacht, eine Zeit, in der sie sich herrlich jung fühlte. Zuerst war es nur reines Vergnügen gewesen, erst später war ein gewisser Druck dazugekommen, ein dunkler Schatten fiel auf die silbrige Leichtigkeit einer durchtanzten Nacht, wenn sie daran dachte, dass es an der Zeit war, sich einen dieser Jungs unter den Nagel zu reißen. Höchste Zeit. Und Benton. … Na ja.
Benton.
Ihre Schritte wurden langsamer. Eigentlich hätte sie wirklich dort bei Harlan im Zimmer bleiben und ihn vor dem Zorn ihres Vaters beschützen sollen. Denn zornig würde er sein, das wusste sie, doch ihre Anwesenheit würde diesen Zorn mildern; das tat sie immer. Sibyl war der Puffer zwischen Lan und Harley. Diese Aufgabe hatte sie übernommen, seit Helen nicht mehr da war, um sie zu erfüllen.
Ihr Bruder war doch noch ein Junge. Er tat nur erwachsen, plusterte sich auf, so wie alle Jungen. Und irgendwann vergaßen die Burschen dann, dass das alles nur Schein war. Das hatte Sibyl Dutzende von Malen erlebt. Eines Tages hörte das Spiel dann auf und wurde ernst, und aus dem Jungen war ein Mann geworden. Vielleicht war es ja ein Fehler von ihr, dass sie versucht war, unter dem draufgängerischen Gehabe ihres Bruders immer noch den verängstigten Jungen zu sehen. Zu spät hatte sie erkannt, dass die Männer ihrer Welt es vielleicht gar nicht zu schätzen wussten, durchschaut zu werden.
Doch so weit war Harley noch nicht. Sibyl fragte sich, ob diese Frau überhaupt wusste, was für ein dummer Junge ihr Bruder noch war. Sie sah Harley vor sich, wie er sich mit seinem selbstzufriedenen Grinsen in irgendwelchen Spelunken herumtrieb, mit Gott weiß was für Menschen zusammentraf, und wie diese Spelunken ihm vielleicht irgendwann lebensechter vorgekommen waren als die sorgfältig eingerichteten Salons von Back Bay. Eine Welt, in der er so tun konnte, als wäre er ein anderer Mensch, und wo er diese Frau gefunden hatte, die dieses Versteckspiel mitmachte.
Sibyls Atem wurde schneller, auch ihre Schritte beschleunigten sich.
Und natürlich war diese kleine Spritztour in eine andere Welt an diesem Abend zum bitteren Ernst geworden. Sie fragte sich, was für grässliche Männer dafür gesorgt hatten, dass ihr Bruder, dieser starke, gesunde und sportliche junge Mann, zu einem armseligen Häufchen Elend zusammengeschlagen wurde. Sie sah die Schurken vor sich, Trunkenbolde mit eingedrückten Nasen und dem Körperbau von Affen, wie sie sie aus den illustrierten Zeitungen kannte, sah, wie sie ihre Schlagstöcke schwangen, die speckigen Mützen tief ins Gesicht gezogen, wie sie, deutlich in der Überzahl, mit den Griffen ihrer Stöcke auf ihn einprügelten. Oder ihren Auftraggeber persönlich, einen Kredithai mit Schweinsäuglein und strähnigem Haar, dem es nur um das Eintreiben seiner Schulden ging, die durch schändliche Zinsen und Knebelverträge noch aufgeblasen waren. Wie gewissenlos diese Leute mit diesem guten Jungen umgegangen waren.
Von wegen Junge!, korrigierte sie sich voller Spott. Immerhin war Harlan einundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter hätte er bereits verheiratet sein und eigene Kinder haben können. Eine bittere Welle der Verachtung schwappte über Sibyl hinweg. Harleys Hilflosigkeit war anerzogen, war ihm quasi in die Wiege gelegt worden. Diese Naivität, dieses arglose Umherstreifen in Welten, in denen er nichts zu suchen hatte, war ein Privileg. Und sie selbst hatte ihren Anteil an dieser Hätschelei. Harley war wie ein verwöhntes Balg, das in der Lage ist, sich Hals über Kopf in einen lodernden Kamin zu stürzen, nur weil die Flammen so herrlich
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