Die Frauen von der Beacon Street
richtete dann ihren Blick auf Sibyl.
» Ich weiß, was wir machen. « Unvermittelt streckte Dovie den Arm aus und packte Sibyl an der Hand. » Ist die beste Möglichkeit, etwas zu sehen. Dazu müssen Sie allerdings morgen mit mir mitkommen. «
» Mitkommen? « , wiederholte Sibyl, ihre Hand immer noch in der von Dovie.
Der Händedruck des Mädchens war warm und beruhigend, und trotz ihrer anfänglichen Bedenken merkte Sibyl, dass ihr etwas daran lag, Dovies Aufmerksamkeit zu behalten. Sie empfand es sogar als Privileg, dass die jüngere Frau sie ins Vertrauen zog. Es erinnerte sie an das einzigartige Vergnügen, das sie empfunden hatte, wenn Eulah sie nach einer Tanzveranstaltung auf dem Flur an der Schulter gepackt hatte. Dann hatte sich Sibyl vor Eulahs Frisiertisch gesetzt, das Kinn auf eine Faust gestützt, und hatte genickt und gelacht, während ihre Schwester berichtete, wer auf dem Ball was gesagt hatte, und warum, was es bedeuten könnte, und ob denn Sibyl auch finde, dass es das bedeutete. Sie hatte ihre Schwester um ihre Schönheit und ihren gesellschaftlichen Erfolg beneidet, das stimmte, doch bei jenen nächtlichen Plaudereien hatte sich Sibyl wie zugehörig zu Eulahs Zauberwelt gefühlt. Die gleiche Anziehung übte auch Dovie auf sie aus. Es war fast unheimlich, wie sehr Dovie sie an Eulah erinnerte.
» Wohin gehen wir denn? «
» Sie werden schon sehen. Sie haben mich in Ihren Club mitgenommen, jetzt müssen Sie in meinen mitkommen. Ich bestehe darauf. «
Sibyl blinzelte unsicher. » Ich kann doch nicht … «
» Vertrauen Sie mir « , sagte Dovie lächelnd und zeigte ihre Grübchen. Sie zupfte sanft an Sibyls Ärmel. » Wir nehmen die Kristallkugel mit. Das wird ein Spaß, das verspreche ich Ihnen. Was haben wir denn morgen sonst schon vor? «
» Nun « , gab Sibyl zögernd nach. » Solange wir bis zum Abendessen daheim sind, denke ich nicht, dass es … «
» Das wird toll « , beharrte Dovie. » Sie werden sehen. «
Vor Freude lachend, fast glucksend, ließ Dovie Sibyls Hand los und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre Augen glänzten im Feuerschein.
DREIZEHN
Chinatown, Boston, Massachusetts
18. April 1915
S ibyl wusste schon längst nicht mehr, in welcher Straße sie sich befanden, nachdem sie den Common und die Boylston Street hinter sich gelassen hatten und an den Leuchtreklamen des Theaterviertels vorbeigekommen waren. Die Straße, in der sie und Dovie standen, war jetzt, am helllichten Tag, voller Menschen. Bei dem Frühlingswetter schienen alle besonders forsch unterwegs zu sein, und die Sonne übergoss alles mit dem Schein der Möglichkeit. Sibyl war einen halben Kopf größer als all die wuselnden Bewohner des Viertels. Die Schilder waren mit kunstvollen, fremdartigen Zeichen beschriftet – Chinesisch. Gerade wollte sie ihre Begleiterin fragen, was sie denn eigentlich hier taten, doch Dovies ganze Aufmerksamkeit lag auf ihrer seidenen Abendtasche, die immer noch mit Harlans Blut besprenkelt war. Das Mädchen kramte in ihr und murmelte dabei ungehalten vor sich hin.
» Verdammt, ich weiß doch, dass es hier drin ist. «
Sibyls Augen wanderten über die Gesichter der Menschen hinweg, die auf der Straße unterwegs waren. Sie fühlte sich allzu auffallend, zu groß und dabei fremd. Nur ihr breitkrempiger Strohhut schenkte ihr Anonymität. Dovie war kleiner und zwar hellhäutiger als Sibyl, doch passte sie sich der Umgebung leichter an, weil ihr Sibyls Bedenken vollkommen abgingen.
» Verdammt! « , fluchte Dovie wieder, und Sibyl trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. Fast hätte sie Dovie wegen ihres Fluchens getadelt, doch sie verkniff es sich. Dovie war nicht Eulah. Es stand Sibyl nicht zu, sie zu korrigieren. Und sie hatte hier nichts zu suchen.
» Ach, da ist es. « Dovie seufzte erleichtert. Sie faltete ein quadratisches Blatt Papier auf, das an den Kanten ganz braun vom vielen Anfassen war. Es war mit einigen hastig hingekritzelten chinesischen Zeichen beschriftet. Nun blieb sie vor einer unauffälligen Tür stehen und klopfte an.
Es öffnete sich eine kleine Luke, und ein Auge, das so dunkel war wie die von Sibyl, spähte argwöhnisch hindurch. Dovie hielt mit einem breiten, strahlenden Lächeln das Papier hoch. Das Auge studierte über eine Minute lang das, was auf dem Zettel wohl stehen mochte. Dann ging die Luke wieder zu.
Es vergingen weitere Minuten. Dovie wippte auf den Füßen wie ein kleines Mädchen,
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