Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
zurücklassen kann. Doch selbst diese starken, unsympathischen, fremden Gerüche konnten meine Erinnerungen nicht verfälschen. Im Dunklen legte ich meinen Kopf auf seine Schulter und trank mit Nase und Mund den Geruch seines Körpers. Ich spürte, dass mein Mund kühl war, weil ich innerlich brannte. Ich verstand, dass etwas zu Ende war: Das Warten, dieser sonderbare Mythos, war zu Ende. Ich wusste, dass die Wirklichkeit begonnen hatte.
In der Dunkelheit hörte ich sein Herz schlagen. Unter seinen kräftigen Knochen, in seinem harten Brustkorb schlug das Herz wie der Hammer des Hephaistos, als er auf seinem Amboss die Lanze schmiedete, mit der Ulysses’ Sohn Telegonos, mein hehrer jetziger Mann, ihn später töten sollte. All das lag in diesem Augenblick. Die Einzelheiten konnte ich nicht vorher wissen, ich bin keine Sibylle. Aber dass es so kommen würde, wusste ich. Deshalb beobachtete ich ihn, vernahm mit durstigen Ohren das Schlagen seines Herzens. Ausdauernde und harte Schläge dröhnten in der Höhle seines Brustkorbs. Für wen und für was dieses Herz wohl schlagen mochte? Ich wusste es nicht.
Ich wusste nur, dass es nicht für mich schlägt.
In den zwanzig Jahren, die ich auf ihn wartete, wurden mir die Nachrichten korbweise ins Haus getragen von den Freiern, den Dienern, den Herolden und einem Menschen, den ich zu diesem Zweck hielt und bezahlte: von Medon, dem Flinken. Meine Diener und meine wortgewandte, diebische, liebe alte Amme Eurykleia versäumten keine einzige Gelegenheit, bei Wanderern, Schiffsleuten und herumlungernden, umherstreunenden Göttern Nachrichten für mich einzuholen. Darunter waren viele Flunkereien, aber aus der Kiepe voller Lügen quoll schließlich ein dicker Tropfen Wahrheit hervor. Ich wusste dies und jenes über Helena, hatte mit halbem Ohr von Nausikaa gehört, dieser ekelerregenden Person, die halb Jungfrau, halb Vogel war. Und von Kirke, meiner lieben Schwiegertochter beziehungsweise auch Schwiegermutter … Es verwirrt mich immer, wenn ich mein Verhältnis zu ihr bestimmen muss. Zufrieden hörte ich auch, dass er bei allen Abenteuern Würde und Haltung bewahrte: Er kehrte unterwegs nicht ins Freudenhaus ein, dort auf der Insel, wo die Sängerinnen die Reisenden anlocken. Das tat mir wohl. Ich freute mich immer, wenn ich hörte, dass er auf seine Gesundheit achtete.
Eines Nachmittags – es muss ungefähr im fünfzehnten Jahr seiner Abwesenheit gewesen sein – besuchte mich mit flinkem Schritt meine liebe Freundin Pallas Athene. Jetzt kann ich es ja sagen: In unserem Haus gaben sich die Götter die Klinke in die Hand. Meine Umgebung und die Dienerschaft waren so daran gewöhnt, dass sie überhaupt nicht überrascht waren, wenn ein Gott zu Besuch kam. Nur die Hunde verbellten unsere Gäste, weil die unvernünftigen Tiere das Göttliche hinter der menschlichen Maskerade nicht erkannten. Der Jagdhund meines Mannes, der treue Argos, bellte Athene jetzt auch an. In Wahrheit war dies eine glückliche Zeit: Die Welt der Menschen und die der Götter waren noch nicht völlig voneinander getrennt.
Obwohl ich die Tochter einer Waldnymphe bin, bin ich mir meiner göttlichen Herkunft sehr wohl bewusst. Und unter meinen Gästen waren oft verkleidete Götter, die sich ungehemmt und menschlich betragen konnten. Ein häufiger Gast unseres Hauses war Hermes, ein entfernter Verwandter meines Mannes, der auch oft bei uns übernachtete. Seine Flügelsandalen reinigte Eurykleia dann mit besonderer Sorgfalt. Und für Pallas Athene, die naschhaft war, standen in einer phönizischen Glasschale immer süße Feigen und nach Ambra duftende Ambrosia bereit. Meine Freundin kam jetzt gut gelaunt und erregt an:
»Ich bringe Nachrichten von ihm!«, rief sie schon auf der Schwelle und verscheuchte mit einer Hand Argos, der nach ihrem Rock schnappte.
»Ruhe dich erst einmal in unserem bescheidenen Hause aus, Tochter des Zeus!«, gab ich höflich zur Antwort. Aber es war keine Zeit für Förmlichkeiten. Sie setzte sich neben mich auf die Liege – völlig außer Atem, denn sie war auf dem Luftweg gekommen – und strich sich die Nase, die unterwegs etwas glänzend geworden war, rasch mit Kallos ein. Dann begann sie auch schon zu erzählen.
»Große Dinge sind geschehen, Penelope. Auf dem Olymp hat eine geheime Sitzung in der Sache deines Mannes stattgefunden. Poseidon, mein nachtragender und eifersüchtiger Bruder, hat von meinem erhabenen Vater Zeus einen Rüffel bekommen. Dein Mann kehrt noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher