Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
der quälenden Verantwortung zu befreien …«
    »Getränke, Lust und Rausch brauchen sie«, sagte meine Mutter trotzig, »um das göttliche Bewusstsein zu betäuben und in ihrer Seele das Tier zu finden. Trotzdem, ich habe diesen Mann gemocht.« Sie sprach leise und etwas keuchend und beugte sich zu Hermes hinüber. Ich reckte meinen Hals, weil ich kein einziges Wort verpassen wollte. »Ich habe von einem aberwitzigen Bündnis geträumt: von einem göttlichen und menschlichen Bündnis … Natürlich hat er mir versprochen, bei mir zu bleiben. Er sagte, er wolle nur kurz den Hades besuchen, sich mit den Toten unterhalten, nach Ithaka heimkehren, nach dem Rechten sehen, seiner Frau und seinem Sohn einen Besuch abstatten, der inzwischen schon erwachsen geworden war, und dann würde er heimkommen zu mir, hierher auf diese Insel. Ich habe ihm gestanden, dass ich ein Kind erwartete. Seine lange Lanze, die Hephaistos geschmiedet hat, hat er als Pfand zurückgelassen.« Sie zeigte auf die Lanze, die aus dem Grabhügel herausragte. »Ich kleidete ihn und seine nutzlosen Gefährten in dicke Wollkleider und gab ihnen Speise und Trank für die Reise. Ich lehrte ihn, wie er sich am Tor des Hades verhalten sollte, von wo noch kein Sterblicher zurückgekehrt ist, und was er den Schatten antworten sollte, wenn sie von ihm Rechenschaft über die Verantwortung der Lebendigen fordern. Ich lehrte ihn die Gefahren kennen, die unterwegs auf ihn und seine Gefährten lauerten, damit sie mit heiler Haut heimkehren konnten und damit er dann, wenn er die heimatliche Scholle gepflügt hätte, zu mir zurückkehren könnte, wie er es versprochen hatte, und das Kind in die Arme nehmen, dessen Herz schon unter meinem Herzen schlug … Ich bin weich geworden«, sagte meine Mutter ernst und ärgerlich. »Ich, die Todesgöttin, bin wegen eines Menschen meiner Berufung untreu geworden und habe einen irdischen Spross gelehrt, wie er das Schicksal hinausschieben kann … Und was war der Dank?«
    Die Stimme meiner Mutter peitschte jetzt durch die Nacht, und es klang, wie wenn der Wolkensammler Zeus das Meer mit seinem Blitz spaltet.
    »Er ist heimgekehrt nach Ithaka«, sagte Hermes etwas verlegen.
    »Und ich habe nie wieder von ihm gehört«, rief meine Mutter ungestüm. »Aber das ist noch nicht alles! Denn wenn er nur heimgekehrt wäre und mich in den Armen seiner alten Frau vergessen hätte, wäre es auch schon Verrat gewesen! Unterbrich mich nicht, göttlicher Dieb! Du bist gekommen, um anzuklagen, aber auch dem Verteidiger stehen ein paar Worte zu! Auf den Inseln, in den Spinnstuben und bei den Brunnen brabbeln die, die es nicht besser wissen, dass Penelope, die treue Gemahlin, ein Musterbild der Tugend sei. Ich weiß aber noch dies und jenes über diese brave Hausherrin vom Lande. Ich weiß, es gab eine Zeit, als umherstreifende Götter im Haus der tugendsamen Strohwitwe schliefen. Erinnerst du dich?«, fragte sie bitter.
    Hermes lächelte. Er hob eine Hand vor die Augen und betrachtete kurzsichtig seine Nägel. So sagte er mit geheimnisvoller, geheimnisbewahrender Stimme, durch die das Lächeln göttlicher Selbstironie und die Kenntnis der menschlichen Natur durchschimmerte:
    »Ich bin viel unterwegs.« Er streckte die Beine aus. Etwas selbstgefällig machte er es sich im Lehnstuhl bequem. »Möglicherweise gab es in den vergangenen Jahren eine Nacht, in der ich auch in Ithaka geschlafen habe.«
    »Möglicherweise!«, rief meine Mutter spöttisch und bitter. »Sieh an, auch die personifizierte bäurische Tugend zieht in Sommernächten gern den leichten Schleier an, durch den die Gestalt ihres heißen Fleisches durchscheint. Göttlicher Dieb!« Meine Mutter verdeckte die Augen für einen Augenblick mit der Hand, als würden Erinnerungen auf sie einstürmen. Sie sah in die Ferne. »Es gab eine Zeit, in der du auch in diesem Haus geschlafen hast«, flüsterte sie leise. Jetzt sahen sie einander nicht an. Meine Mutter senkte den Blick.
    Hermes beugte sich vor.
    »Liebe Freundin«, sagte er leise, aber mit voller, tiefer Stimme, »niemals habe ich die Nacht vergessen, in der ich dein Gast sein durfte. Das Herz der Götter …«
    »Ist vergesslich wie das der Menschen!« Nun klang meine Mutter wieder streng. »Du bist gekommen, um mich anzuklagen. Du glaubst, ich weiß nicht, wie wenig du, gerade du, befugt bist, von mir für etwas Rechenschaft zu verlangen. Ich kenne dich, mein Freund«, sagte sie traurig, obgleich würdevoll. Plötzlich richtete sie

Weitere Kostenlose Bücher