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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Wahrheit sei. Ich saß im Busch, und mir schoss alles Blut ins Hirn. Ich wollte brüllen, aus meinem Versteck herauslaufen und wütend mit dem Fuß aufstampfen. Aber ich bremste mich. Endlich wusste ich die Wahrheit.
    Hermes wurde nachdenklich.
    »Kirke«, sagte er dann nüchtern und klug, »ich glaube, jetzt sehe ich klar. In dem Bericht, den ich an höherer Stelle einreichen werde, sage ich alles, was ich heute Abend gehört habe. Natürlich verschweige ich auch die mildernden Umstände nicht. Für dein Verhalten, das der göttlichen Ordnung sowie der Entwicklung der Menschheit nicht zuträglich ist, gibt es einen Grund, den man würdigen muss. Niemand kann leugnen, dass Ulysses auch dich schnöde hereingelegt hat. Die göttliche Gerechtigkeit muss dein Recht auf Genugtuung anerkennen. Diese Kränkung gibt dir allerdings nicht das Recht, dich mit deinen göttlichen und weiblichen Leidenschaften sowie mit der Kraft deines geheimen Wissens in die Ordnung der gesellschaftlichen Entwicklung einzumischen. Die Zeiten ändern sich. Ein neuer Vertrag zwischen Göttern und Menschen ist in Vorbereitung. Im Geiste dieses Vertrages herrschen die Götter auch weiterhin mit ihrem erhabenen Willen über die Gesetze von Geburt und Tod. Aber zwischen den beiden Polarsternen der Geburt und des Todes wird der Mensch, dieses aufständische Geschöpf, in Zukunft frei über sein Schicksal verfügen können. Sein Dämon begleitet ihn, wie er jedoch mit dem Schicksal zurechtkommt, ist sein Problem. Pallas Athene oder ich selbst sind in Zukunft ebenso wenig berechtigt, ihm zu helfen, wie du, göttliche Kirke, berechtigt bist, ihm zu schaden. Ich glaube, ich habe mich verständlich ausgedrückt.« Er hatte die Stimme erhoben, um seinen Worten höflich, aber energisch Nachdruck zu verleihen.
    Meine Mutter saß ihm mit gesenktem Blick gegenüber und spielte mit den Quasten ihrer Schlangenhautpeitsche.
    Sie sah den Gast von der Seite an und fragte mit verhaltener Stimme:
    »Und das Recht auf Rache?«
    »Es gibt keine Rache«, entfuhr es Hermes, »es gibt nur Gerechtigkeit. Die von Leidenschaften aufgewühlte Weltordnung würde in Anarchie ersticken, wenn wir das Recht auf Rache in das göttliche und menschliche Gesetzbuch aufnehmen würden. So, wie wir damals mit den Titanen umgegangen sind, so müssen wir auch jetzt mit den Leidenschaften umgehen, die aus der Zeit der großen Wirren übrig geblieben sind. Es wird eine öde und langweilige Zeit kommen: die Zeit des Gesetzes. Für alles wird es Gesetze geben: gesellschaftliche und natürliche Gesetze. Das große Abenteuer, das Abenteuer der Erschaffung der Welt, ist zu Ende. Erinnere dich nur, was für ein großes Spiel das war! Wild, wunderbar und fürchterlich haben wir gespielt, Götter und Menschen. Jetzt kommt leider die Ordnung.«
    »Schrecklich«, sagte meine Mutter erschüttert.
    Hermes streckte sanft, aber entschlossen die Hand aus und nahm ihr die Zauberpeitsche aus der Hand.
    »Ich habe den Befehl«, sagte er leise und ernst, »das Symbol und Werkzeug deiner gefährlichen Kunst zu beschlagnahmen. Das tue ich jetzt.« Er steckte sich die Peitsche in den Gürtel. Hilflos und mit weit aufgerissenen Augen duldete meine Mutter die Degradierung. »Vom heutigen Tag an«, sagte Hermes feierlich, »hast du kein Recht mehr auf deine schändlichen Spiele. Der Mensch wird in Zukunft aus eigenem Willen ein Schwein oder bleibt ein zweibeiniges Wesen … in dem Maß, wie sein Verstand mit seinen Trieben ein Abkommen schließt.«
    »Und was bekomme ich dafür?«, fragte meine Mutter mit ersterbender Stimme.
    »Gerechtigkeit und Genugtuung«, antwortete Hermes ernst. »Die Götter legen das Schicksal des Menschen, der dein Herz so spitzfindig und tückisch verletzt hat, in deine schönen Hände.«
    »Ulysses’ Schicksal?«, kreischte meine Mutter auf.
    »Ja«, sagte der Gott und erhob sich. Meine Mutter sprang auch auf. Jetzt standen sie sich Auge in Auge gegenüber. »Du hast noch das Recht, über einen einzigen Menschen zu urteilen. Dieser Mensch ist Ulysses. Den Tod, den du für ihn vorsiehst, muss er annehmen. Pallas Athene kann ihn nicht schützen. Und ich habe kein Recht, deine Hand festzuhalten, wenn du einen Pfeil in sein Herz schickst.«
    Die Augen meiner Mutter leuchteten mit dunklem Feuer.
    »Ich verstehe.« Ihre Stimme klang wie das Zischen der Peitsche, wenn sie sich auf eine Zauberei vorbereitete.
    »Aber sieh dich vor!«, sagte Hermes feierlich.
    »Warum soll ich mich vorsehen?«,

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