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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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fragte sie mit belegter, heißer Stimme. »Wenn ich sein Schicksal in der Hand habe …«
    Hermes lächelte. Mit einer Hand stützte er sich auf seinen Heroldsstab, mit der anderen umarmte er meine Mutter leicht. So schritten sie halb umschlungen und aufeinandergestützt zum gedeckten Tisch. Auf dieses Zeichen hin begannen die Nymphen, das Essen aufzutragen. Aber noch bevor die Gastgeberin und ihr Gast Platz genommen hatten, blieb Hermes auf dem Gartenweg stehen. Das Mondlicht überzog ihre Gestalten mit silbernem Glanz. In der Bucht kam ein Wind auf, die beiden Zypressen schwankten leidenschaftlich bei der Berührung von Aiolos’ Hauch. Der Gott beugte sich nah zum Ohr meiner Mutter und sagte leise:
    »Du hast das Recht, dem Lichtbringer den Tod zu geben.« Er lächelte mit glasigen Augen. »Doch in dem Augenblick, in dem Ulysses stirbt, hat er das Recht, über die zu urteilen, die ihn geliebt, verraten, geküsst und getötet haben. So haben es die Götter beschlossen.«
    In meinen Ohren rauschte das Blut, so sehr bemühte ich mich, keinen Laut der leisen Worte des Gottes zu verpassen. Meine Mutter zog besorgt die Brauen zusammen. Dann sagte sie, mit nachdenklicher, zweifelnder Stimme, als spräche sie in die unendliche Zeit:
    »Wer kann wissen, was Ulysses im letzten Augenblick will?«
    Sie standen reglos da. Neugierig und sorgenvoll sahen sie einander in die Augen. Und weil die Nymphen schon mit den Speisen herbeikamen, fragte Hermes mit einem raschen Flüstern noch:
    »Glaukos und die kleine Skylla … sie bekommen natürlich ihre menschliche Gestalt zurück?«
    Meine Mutter befreite sich aus seiner Umarmung. Mit der Würde der Gastgeberin und Göttin sagte sie unnachgiebig:
    »Du verlangst Unmögliches. Glaukos, dieser unverschämte Flegel, wollte von mir, seiner verlassenen Geliebten, dass ich die Kupplerin spiele und ihm das Herz der kleinen Liederlichen erobere. Frecher hat noch nie ein Mann zu mir gesprochen. Natürlich hat ihn, als er ein wenig zu tief in den Kelch mit dem betäubenden Getränk gesehen hatte, sein Schicksal ereilt.«
    »Aber die kleine Skylla?« Hermes schüttelte den Kopf. »Das Kind ist unschuldig. Hast du ihr auch etwas zu trinken gegeben?«, flüsterte er verschwörerisch.
    »Sie war nicht unschuldig«, sagte meine Mutter eiskalt. »Ich habe ihr nichts zu trinken gegeben. Sie hat die Nacht mit Ulysses’ Sohn, meinem hehren Sprössling, verbracht und ihn in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht. Am Morgen habe ich sie zusammen überrascht, im Bett …«
    Hermes lachte zufrieden und dröhnend.
    »Prächtiges Kerlchen! Ich hoffe, du hast ihnen nicht das Aufwachen verdorben?«
    »Nach der Nacht«, sagte meine Mutter ernst und geheimnisvoll, »hat die Besucherin, die das Gastrecht so willkürlich ausgelegt hat, ein Bad gebraucht. Ihr Badewasser habe ich selbst bereitet.« In ihrer Stimme flackerte die Erinnerung an einen hinterhältigen, leidenschaftlichen Hass auf. »Die Zaubersalze, mit denen ich ihr Badewasser duften ließ, waren von sonderbarer Wirkung auf die Haut dieses unzüchtigen Bauernmädchens. Stell dir vor, göttlicher Dieb: Kaum saß sie in der Badewanne, wurde ihre Haut schuppig wie der Leib von Meereswesen …«
    »Ich verstehe«, sagte Hermes ernst. »Du kannst viel, Kirke!« Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Es wird Zeit, dass der göttliche Wille deiner schönen, aber gefährlichen Hand Einhalt gebietet.«
    Meine Mutter lächelte unbarmherzig.
    »Das war das letzte Mal!«, sagte Hermes ernst und warnend. Dann zuckte er mit den Schultern und schwang die Peitsche, die er gerade erst von meiner Mutter beschlagnahmt hatte. »Den beiden Opfern gibst du also die menschliche Gestalt zurück …«
    »Zu spät«, rief meine Mutter triumphierend.
    Ilythia und die göttlichen Küchenmägde hatten unterdessen mit den hoch erhobenen, riesigen Silberschüsseln den Tisch erreicht. Meine Mutter und Hermes nahmen wortlos Platz. Hermes schien nachzudenken, während ihm Doro das Waschwasser über die Hände goss. Meine Mutter prüfte mit dem Blick der guten Hausfrau den Inhalt der Schüsseln. Vorsichtig streckte ich den Kopf durch das Blattwerk des immergrünen Strauches und erblickte das, vor dem mein junges Herz gezittert hatte: In einer mühlradgroßen, runden Schale lag, von Mayonnaise umgeben, zwischen Petersilie und grünen Brennnesselblättern, krebsrot gebraten Skyllas jugendliche, unvergessliche Leiche. In einer anderen Schale erkannte ich Glaukos’ knusprig dunkelbraun

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