Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
gebratenen Schweinekopf. Zwischen den Hauern hielt er eine Zitrone … Mit dem Blick eines viel erfahrenen, weit gereisten, mit der Kenntnis irdischer und himmlischer Geheimnisse reich beschenkten Gottes betrachtete Hermes die Speisen und sah dann meine Mutter an. Er beugte sich über den Marmortisch und flüsterte leise, damit die servierenden Nymphen es nicht hörten:
»Bin ich zu spät gekommen mit dem Befehl?«
Offensichtlich hatte er die Lage erkannt und verstanden. Meine Mutter lächelte unbarmherzig und zufrieden. Sein göttlicher Verstand und seine listenreiche Erfahrung sagten Hermes, dass sich das Schicksal von Glaukos und seinen Gefährten und Skylla erfüllt hatte. Obwohl mein ganzer Körper vor Entsetzen krampfhaft zitterte, sah ich fassungslos zu, wie der Gott sich eher interessiert und gierig als angewidert über die mit den schrecklichen Speisen verführerisch gefüllten Schüsseln beugte. Als fände er sich mit dem Unabänderlichen ab, zuckte er mit den Schultern, brach mit beiden Händen eine rote Krebsschere ab, die – ich hätte vor Schmerz heulen mögen! – noch vor Kurzem in Gestalt einer duftenden Mädchenhand meinen Hals umarmt hatte, und nahm mit einem goldenen Löffel reichlich Mayonnaise dazu. Missbilligend schüttelte er den Kopf, doch plötzlich lächelte er.
»Kirke, Kirke!«, sagte er komplizenhaft und genießerisch. »Du bist unverbesserlich, meine hehre Freundin! Es wird Neid und einen Aufschrei geben, wenn ich das morgen auf dem Olymp erzähle.«
Und er biss in die Krebsschere, aus der Skyllas weich gekochtes, weißes und faseriges Fleisch hervorquoll. Meine Mutter schnitt sich ein schmales Stückchen von Glaukos’ Doppelkinn ab. Beide lächelten und zeigten genießerisch die weißen Zähne … Die Fackeln flackerten im duftenden Wind. Schmatzend, triumphierend und boshaft aßen sie. All das war mehr, als mein junges Herz ertragen konnte. Fiebrig kletterte ich aus dem Busch, ich zitterte am ganzen Leib. Auf dem Bauch rutschend stahl ich mich in die nahe Laube, und erst als ich mich in der Nacht und im Dunkel der Erlen versteckt hatte, warf ich mich zu Boden. Mit meinen Nägeln kratzte ich in der vom Dunst der Nacht aufgeweichten Erde und stopfte mir eine lehmige Erdscholle in den Mund, um das Schluchzen meiner abscheulichen Angst und Erschütterung zu ersticken.
X
An den folgenden beiden Tagen sah ich meine Mutter nicht. Sie hielt sich in ihren Zimmern auf und ließ mir nur durch Ilythia ausrichten, dass sie Kopfschmerzen habe und mich nicht empfangen wolle. Ich hatte auch nicht den Wunsch, ihr unter die Augen zu treten. Hermes war schon früh am Morgen weitergezogen. Ich zählte die Herde – verwundert bemerkte ich die Gleichgültigkeit, mit der die verzauberten Gefährten des armen Glaukos die Abwesenheit ihres Herrn und Königs ertrugen – und verbrachte den Tag damit, am Waldrand zu liegen. Ich versuchte, mich zu beruhigen, Ordnung zu schaffen in den Schreckensbildern meiner aufgeregten Phantasie und in meinen wirren Gedanken, die wie Fledermäuse kreisten. In diesen Tagen rührte ich meine Flöte nicht an. Alles, was ich gehört und erlebt hatte, war so schrecklich, dass sich meine unerfahrene, jugendliche Seele nicht damit abfinden konnte. Mich entsetzte die gnadenlose Gleichgültigkeit, mit der – wie ich jetzt sah – meine göttlichen Verwandten das Schicksal über die Menschen verhängten. Zugleich hatte ich Hermes’ Worten entnommen, dass nicht nur die bösartigen Spiele meiner Mutter in der Welt zu Ende gingen, sondern dass sich auch die Machtsituation im Verhältnis zwischen Göttern und Menschen geändert hatte. Ich hatte erfahren, dass ich Ulysses’ Sohn bin. Ich hatte erfahren, dass Ulysses’ Schicksal nun in den Händen meiner göttlichen Mutter lag – dass er aber zugleich auch Macht besaß, die anders, aber nicht geringer war als die Macht der Götter. Ich schauderte bei dem Gedanken, dass ich der Sohn meiner Mutter bin. Mein Herz schlug höher bei dem Gedanken, dass ich auch Ulysses’ Sohn bin. Ich war entsetzt, weil ich Zeuge geworden war, dass die Götter die Menschen, ihre Opfer und Geschöpfe, fressen. Ich wusste noch nicht, dass schließlich auch die Menschen die Götter fressen. Sie verdauen sie mit der Zeit in den Kanälen des Selbstbewusstseins und Vergessens. Alles in allem fühlte ich mich jetzt schon ganz anders als Mensch und Mann als an dem Morgen, an dem mich meine Mutter aus Skyllas Armen in die Welt hinausgejagt hatte. In jener
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