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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Sekretär bedeutete mir mit einer Geste, dass wir den hehren Erinnernden nicht stören sollten, bevor er selbst die Erlaubnis dazu gäbe.
    In meiner ersten Verwirrung verstand ich nicht genau, was Menelaos sagte. Während die Sklaven andächtig kritzelten, hatte ich Zeit, mich in der Behausung des großen Feldherrn umzusehen. Überall sah ich Siegestrophäen und eigenartige Erinnerungsstücke. Pferdeschwänze, Hörner, Schilde und Waffen prangten an den Wänden. Auf einem flachen, langen Tisch zeigte eine an Kinderspielzeug erinnernde, aus Holz und gebranntem Schlamm gebaute Spielzeugstadt das verkleinerte Abbild von Troja. Gegenüber diesem Jahrmarktssouvenir des großen Krieges erblickte ich auf einem anmutigen, dorischen Sockel eine Frauenbüste aus weißem Marmor. Die roten und goldenen Lichter der untergehenden Sonne leckten mit Flammenzungen den nackten Marmorbusen der Frau mit dem schönen Kopf. Erstaunt und ehrfürchtig starrte ich die Statue an, denn trotz meines lückenhaften historischen Wissens ahnte ich, dass ich das Abbild der Großen Frau des Heiligen Krieges, der göttlichen Helena, vor mir hatte. Das Bewusstsein, dass all dies auch mit meinem Vater zusammenhing, brachte mein Blut in Wallung. In diesem Augenblick verstand ich einige der genäselten Worte Menelaos’. Ich hörte den Namen meines Vaters und passte auf. Menelaos sah sich nicht um und sagte:
    »Für die Nachwelt besteht keinerlei Zweifel daran, dass die Hinrichtung von Palamedes ein Paradebeispiel für einen Justizmord darstellt. Mein treuloser General Ulysses hat mit dieser niederträchtigen Schandtat seinen Intrigen die Krone aufgesetzt.«
    Dies sagte er befriedigt, dann lachte er meckernd auf. Eine Zeit lang betrachtete er die sinkende Sonne. Dann – noch immer über die Schulter – wandte er sich an die Schreibsklaven:
    »Für heute ist es genug. Schreibt es ins Reine.«
    Langsam stand er auf und drehte sich um. Erst jetzt sah ich, wie dick er war. Sein Gesicht war aufgequollen, unter seinen Augen hingen Säcke. Seine Nase war spitz und gerötet. Sein langes, weißblondes Haar hing ihm in geflochtenen Strähnen auf die Schultern. Er trug einen bunten Seidenkaftan wie die orientalischen Händler, die manchmal auf die Insel Aiaia kamen und meiner strahlenden Mutter Gewürze und verbotene Tränke brachten. Vor Verblüffung blieb mir der Mund offen stehen: Diese Erscheinung, dieser weiche Fleischberg, glich eher einer fett gewordenen alten Frau als einem General.
    Der große Feldherr blinzelte mit klebrigen Augen ältlich und verschlafen. Er fuhr sich mit zwei Fingern unter der Nase entlang und fragte mit weibischer, singender Stimme:
    »Wer ist das denn?«
    Er zeigte mit dem Finger auf mich. Der Sekretär eilte zu ihm und flüsterte ihm untertänig etwas ins Ohr.
    »Lauter!«, schnarrte Menelaos.
    Verblüfft erkannte ich, dass der berühmte General nicht nur kurzsichtig, sondern auch schwerhörig war. Mir kam der Verdacht, dass sein Hörvermögen im Kampflärm vor Troja gelitten hatte. Deshalb sah ich ihn wortlos voller Ehrfurcht an. Ich erinnerte mich an alles, was meine Mutter in den Stunden ihres gereimten und gesungenen Unterrichts über den Heiligen Krieg erzählt hatte: wie Zeus im Augenblick der entscheidenden Schlacht donnerte, wie Poseidon das Meer und die Berge dröhnen ließ, wie die Trojaner die Schiffe anzündeten und die Stunde des letzten Kampfes gekommen war. Ich nahm an, dass das Gehör des berühmten Greises damals Schaden genommen hatte. Aber Menelaos hatte meinen Namen jetzt verstanden und räusperte sich.
    »Ähem«, sagte er. »Er ist das?«
    Auf seinen Ebenholzstab mit dem Elfenbeingriff gestützt kam er auf mich zu. Der weiche, mächtige Körper kam schwabbelnd unmittelbar vor mir zum Stehen, die feuchten Augen blinzelten und betrachteten mein Gesicht von Nahem. Er prüfte mich wie ein kurzsichtiger Rinderhändler das Opfertier: aufmerksam, aber ohne persönliches Interesse. Aus seinem zahnlosen Mund blies er mir seinen Atem entgegen. Dieser Mund stank schon jetzt, zur Nachmittagszeit, faulig nach Wein. Erschüttert stellte ich fest, dass Menelaos beim Laufen etwas taumelte. Der Diener mit Silberkrug und Goldkelch wich ihm nicht von der Seite. Der Feldherr streckte von Zeit zu Zeit seine leberfleckige Hand aus und nahm den bis zum Rand gefüllten Kelch entgegen, aus dem er durstig schlürfte.
    »Tut mir leid«, sagte er dann guttural und hochmütig. »Tut mir leid, Junge, dass das erste Wort, das du in meinem

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