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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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naschhafte Kinder, die ihre Sehnsüchte nicht verbergen können. Ihr da in eurem kargen Ithaka habt es ja sehr mit der Tugend. Ich weiß, dass deine hehre Mutter, die von Beruf tugendhaft ist, schlecht von uns Nymphen spricht und unseren Ruf schmälert. Ich will deine Gefühle als Sohn nicht verletzen, deshalb schweige ich davon, was ich in meiner Inseleinsamkeit hier und da über deine Mutter und ihre berühmte Tugendhaftigkeit erfahren habe …« So sprach sie in scharfem Ton und mit flinker Zunge. Aber als sie meinen finsteren Blick sah, wechselte sie rasch das Thema. »Du bist gekommen, weil du die Wahrheit wissen willst. Dann musst du sie auch ertragen. Wagst du zu behaupten, dass die Gefühle, die du deinem Vater gegenüber empfindest, völlig unschuldig sind? Ich sage nicht, dass ihr keinen Grund zur Klage habt, zu Hause in Ithaka«, sagte sie großzügig. »Aus menschlicher, aber vielleicht auch aus göttlicher Perspektive gäbe es vieles an der Lebensweise des Lichtbringers auszusetzen. Du und deine Mutter gebt zumindest zu, dass böse Gedanken euch bedrängen, wenn ihr über ihn urteilen wollt! Ist es nicht so?«
    Ich senkte den Kopf angesichts dieser strengen Frage.
    »Es ist grässlich, was du redest«, sagte ich heiser und erschüttert. »Du beschuldigst mich, dass ich meinem Vater heimlich, tief im Herzen nach dem Leben trachte, wie es die böse Prophezeiung vorsieht! Das stimmt nicht!« Erregt hob ich die Stimme. »Ich habe Angst vor ihm, manchmal hasse ich ihn tatsächlich. Aber ich würde es niemals wagen, die Hand gegen ihn zu erheben.«
    Kalypso hörte aufmerksam zu und lächelte mitleidig.
    »Weil du dich fürchtest.« Sie verzog den Mund. »Du fürchtest dich, also bist du tugendhaft. Ach, ihr Menschen …«, sagte sie arrogant und fächerte sich mit ihrem weißen Tuch Luft zu, als wollte sie unangenehme Erinnerungen verscheuchen.
    »Es scheint wirklich so zu sein«, sagte sie nach kurzem Schweigen, »dass unter den Menschen Eltern und Kinder nur selten vollkommen miteinander harmonieren. Leidenschaften, Eifersucht und sonderbare, geheimnisvolle Gefühle wirbeln im Herzen der Sterblichen. Sollte es wahr sein, dass die Söhne den Vätern nach dem Leben trachten, sie ermorden wollen, um den Platz des Vaters im Bett der Mutter einzunehmen? Neulich habe ich so einen tragischen Klatsch gehört«, sagte sie neugierig und beugte sich zu mir. »Ein Mensch, ein gewisser Ödipus, hatte in Delphi, der Wohnstatt der verfluchten und notorischen Verkünder von Botschaften, gehört, er würde seinen Vater umbringen und seine Mutter zur Frau nehmen, eine Frau namens Iokaste. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass er den Vater, der lahm war, tatsächlich tötete, nachdem der Sohn mit der Mutter geschlafen hatte. Die Geschichte ist unschicklich, aber alltäglich. Ödipus hat sich später vor Kummer geblendet. Hast du davon gehört?«
    Ich gab zu, dass ich diesen Klatsch aus Argos gerade zum ersten Mal hörte. Kalypso winkte überheblich und gleichgültig ab:
    »Nun, dieser Ödipus war ein nervöser Mensch. Doch auch sonst heißt es, dass bei den Sterblichen zwischen Vätern und Söhnen die Eifersucht eine Rolle spielt. Ich hoffe, bei euch in Ithaka ist auch das anders«, sagte sie boshaft. »Zwischen deiner hehren Mutter, der tugendhaften und strahlenden Penelope, und dir ist das Verhältnis gewiss vertrauensvoll.«
    Sie sprach schlicht und beherrscht, aus ihren Worten gellte jedoch der Argwohn hervor. Ich bemühte mich, überzeugend zu antworten. Ich sah ihr in die Augen und sagte mit lauter Stimme:
    »Meine strahlende Mutter war in der langen Zeit ihrer Strohwitwenschaft ein wahres Vorbild für eheliche Treue und mütterliche Tugenden.«
    »Ja«, sagte Kalypso heiter. »Das erwähnte auch Hermes, als er neulich hier vorbeikam. Ich will mich nicht mit einer abwesenden Person streiten. Besonders dann nicht, wenn diese Person Ulysses’ Frau ist. Ich sage nur, dass deine Mutter, das große Tugendideal, zu streng über andere urteilt, die vielleicht nach außen hin nicht so tugendhaft sind wie sie, die sich aber auf ihre Weise Ulysses gegenüber treu und aufrichtig verhalten haben.«
    Jetzt sprach Kalypso ernst.
    »Göttliche Frau«, sagte ich besänftigt, »ich glaube nicht, dass meine Mutter an der Aufrichtigkeit der Gefühle zweifeln würde, die du für meinen Vater empfunden hast. Schließlich hast du ihn sieben Jahre lang bei dir wohnen lassen.«
    »Ich habe mit ihm geteilt, was meine Armut

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