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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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auch meine Cousinen, die Bergnymphen, die von den fünf Töchtern meines Großonkels stammen. Wir alle haben das Recht, Sterblichen die Unsterblichkeit zu verleihen.« Geheimnisvoll fuhr sie fort: »Natürlich hat auch unsere Unsterblichkeit Grenzen. Wenn das Herz einer Nymphe von einer Leidenschaft verwundet wird, kann das unser Ende sein, wie dies mit meiner Cousine, der göttlichen Nymphaia, geschah, die eine hervorragende, künstlerisch begabte Weberin war, aber an der wahnsinnigen Leidenschaft für den großen Herakles zugrunde ging. Das ist streng geheim, sprich mit niemandem darüber, nirgends«, sagte sie eindringlich mit tiefer Stimme.
    Ich versprach zu schweigen. Kalypso seufzte und fuhr leiser und vertraulich fort:
    »Aber Nymphaia war ein Bergwesen, eine Verwandte der Satyrn, also ein ungestümes, etwas verwildertes Geschöpf. Wir, die Nymphen der Flüsse, Moore und Seen, müssen darauf achten, dass das Gleichgewicht unseres unsterblichen Lebens nicht von große Leidenschaften zerstört wird. Wir sind die Göttinnen der freien Natur und bringen Leben auf die Erde. Deshalb feiern wir jede Hochzeit mit. Deshalb suchen wir überall die Nähe des Wassers. Denn Wasser, weich und feucht, ist das Leben. Früher, als die Griechen noch nicht vollständig taub für die Erscheinungen der Natur waren und ihre schwatzenden Redner sie noch nicht ermuntert hatten, die Erde und den Himmel durch das trügerische Kristallglas falscher und künstlicher Theorien zu sehen, fühlten sich die Menschen zu uns Nymphen hingezogen. Sie wussten: Wo wir sind, da ist auch das Leben. Unseren Namen gaben sie der Braut, aber auch den uralten Geistern. Auf unseren Inseln sprudelte das Wasser reichlich … hier bei mir, davon konntest du dich überzeugen, aber auch auf der Insel meiner Nachbarin, der göttlichen Kirke, wo dein Vater nur kurz, insgesamt ein Jahr, verweilt hat … Geh nicht dorthin«, bat mich Kalypso leise. »Meide Kirkes Insel! Hörst du, Junge? Ja, dort sind Wohnung und Tänze der Eos, von dort geht Helios auf seinen Tagesweg … Aber du, Kind, suche nicht Kirkes Nähe! Glaube nicht, dass die Eifersucht aus mir spricht! Dein Vater hat sich, als ich ihn in meinen Armen hielt, nicht mehr an meine göttliche Nachbarin erinnert …«
    Später erfuhr ich, dass Kalypso in diesem Augenblick nicht die Wahrheit sagte. Sie schien sonderbar erregt zu sein. Zurückhaltend antwortete ich nur, dass ich nicht vorhabe, mein Schiff zur Insel Aiaia zu lenken. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass die göttliche, wenn auch betagte Nymphe in diesem Moment mit der Kraft eines Sehers sprach!
    »Du kannst die Insel des Okeanos besuchen.« Kalypso war misstrauisch und sichtlich erregt. »Dort tanzen die Wolken mit den Nymphen Reigen. Ich werde dir eine Empfehlung geben. Du musst aufpassen, denn auf der Insel des Okeanos ist der Eingang zur Unterwelt! Galateia wird dir eine genaue Karte und Wegbeschreibung geben. Dort wohnen die Träume, der Schlaf, dann die Zwillingsgeschwister Tod und Nacht. Außerdem hausen dort auch die Gorgonen … Trotzdem lauern auf der Insel des Okeanos insgesamt weniger Gefahren auf dich als in der Gesellschaft von Kirke«, sagte sie düster.
    Ich bemühte mich, ihre Aufmerksamkeit von dieser Nymphe abzulenken, denn ich sah, dass schon die Erwähnung von Kirkes Namen meine Gastgeberin aufregte.
    »Ich komme von der Insel Scheria«, sagte ich im Plauderton. Aber Kalypso winkte überheblich ab:
    »Ich weiß. Jetzt nennen sie diese Insel so, dabei heißt sie in Wirklichkeit Korfu. Die Phaiaken verdrehen alles, was ihnen in die Finger kommt, um zu prahlen, so auch den Namen der Insel, die sie besetzt haben. Sie glauben, weil sie wie die Giganten von den Blutstropfen abstammen, die aus dem abgeschnittenen Glied des entmannten Uranos zu Boden fielen, hätten sie schon das Recht, sich zu brüsten und der Welt einen neuen Namen zu geben. Gib nicht damit an, dass du auf der Phaiakeninsel warst«, sagte sie mit mütterlicher Strenge.
    Ich versprach zu schweigen. Meine Worte beruhigten sie nicht. Leise und vertraulich, aber leidenschaftlich sprach sie weiter. Es war zu hören, dass die alten Erinnerungen sie in Unruhe versetzten.
    »Die Giganten und die Phaiaken«, murmelte sie vor sich hin. Dann sah sie mich mit einem aufblitzenden Blick voller dunklen Feuers an. »Viele Geheimnisse gibt es hier, mein Sohn, die du lernen musst, wenn du des Namens deines Vaters würdig sein willst«, sagte sie streng. »Er hat leicht und

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