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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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schnell gelernt … Nun ja, danach hat er genauso leicht und schnell wieder vergessen.« Die Stimme der Nymphe klang bitter. »Ihr Menschen, die ihr euch nur noch undeutlich an euren göttlichen Ursprung erinnert, sprecht mit leichten Worten, mit prahlerischen und oberflächlichen Verallgemeinerungen von den Göttern. An deinem Vater habe ich gerade geliebt, dass er sich an seinen göttlichen Ursprung erinnerte, obwohl er ein Mensch war, und dass er, als ich ihn dies und jenes lehrte, aufpasste und nicht sofort verallgemeinerte. Die Götter, sagt ihr! Weißt du denn, Kind, wie viele Schattierungen, Abarten und Unterschiede hinsichtlich Herkunft und Rang es auch bei den göttlichen Wesen gibt? Als würden sie nicht alle, Götter und Menschen, also alle Wesen, die eine Seele haben, den Umarmungen von Gaia und Uranos entstammen!«
    »Göttin«, sagte ich und hielt den Atem an, denn ich spürte, dass ich Geheimnisse erfahren würde, wie sie Sterbliche bislang nur selten von göttlichen Wesen gehört hatten, »was ist die Seele?«
    Kalypso saß mit zurückgeworfenem Kopf da und sah mich mit halb geschlossenen Lidern hochmütig an. Dann lächelte sie.
    »Die Seele«, sagte sie überlegen, »ist eine Mischung aus Blut und Atem. Wird das bei euch im felsigen Ithaka auch nicht gelehrt?«
    »Wir haben gelernt«, antwortete ich gehorsam, »dass die Menschen von den Steinen abstammen.«
    »Papperlapapp«, sagte Kalypso nervös, »das ist dieser orientalische Aberglaube. Ist es denn zu glauben, dass die Menschen, diese neugierigen und tatkräftigen Wesen, auch heute noch im Irrtum leben, was ihren eigenen Ursprung und ihr Schicksal angeht? Ich sehe, deine hehre Mutter hat deine Erziehung vernachlässigt. Dieser Aberglaube, dass die Menschen von den Steinen stammen, mit denen die Giganten an der Grenze zu Phrygien, an den Hängen des Agdosgebirges, geworfen haben, ist erbärmlich. Genauso wie das andere Gerede, das auf den Inseln herumgeflüstert wird, dass Zeus die Sterblichen aus Ameisen gemacht hat und sie Aiakiden nennt! Oder der Tratsch derer, die zu wissen glauben, dass Prometheus, der Feuerbringer, die Menschen aus Ton geschaffen habe … Das ist alles orientalische Phrasendrescherei, das Geschwätz von Wahrsagern und Unwissenden. Die Wahrheit ist viel einfacher. Und zwar die, dass mein göttlicher Onkel Prometheus mit seiner hehren Frau, der weißbusigen Pandora, den ersten Menschen gezeugt hat, den einfältigen, aber gutwilligen Deukalion. Ich hoffe, diesen Namen hast du schon gehört?«, fragte sie streng.
    Verlegen murmelte ich, dass der Name Deukalion auch bis auf die Insel Ithaka gedrungen sei. In Wahrheit wusste ich wenig über diesen Ahnen. Kalypsos prüfenden Augen entging meine Verlegenheit nicht. Sie schüttelte den Kopf und lächelte missbilligend, dann fuhr sie in belehrendem, freundschaftlichem Ton fort:
    »Die Weggefährten deines Vaters, die griechischen Fürsten und Adligen, haben Argos mit wirren Geschichten vollgeschwatzt, weil sie wollten, dass ihr herausgehobener Rang und ihre besondere gesellschaftliche Stellung bereits von der Legende ihrer vornehmen Abstammung gestützt wird«, sagte sie streng. »Deshalb haben sie das Ammenmärchen verbreitet, dass das gewöhnliche Volk, also die Menschheit, von den Steinen abstammt, mit denen die Giganten gekegelt haben, während sie, die Adligen und Hochrangigen, unmittelbare Nachkommen des Zeus seien. Das ist aber alles Geschnatter und Klassenstolz«, sagte sie verächtlich. »Die Menschen sind auf gleiche Weise Mensch, egal, ob sie als Sklaven oder als Fürsten geboren wurden. Sie haben eine Seele, die ein Gemisch aus Blut und Atem ist, nichts weiter. Sie haben ein Schicksal, das in den Tod mündet.« Als spräche sie zu sich selbst, fügte sie leiser hinzu: »Eine interessante Rasse.«
    Einige Augenblicke lang schwieg ich andächtig und hing meinen Gedanken nach. Als ich wieder zu mir kam und bemerkte, dass die Nymphe mich forschend ansah, begann ich unsicher:
    »Aber sie haben auch etwas Göttliches … Du hast gesagt, dass Prometheus und Pandora unsere Ahnen sind. Wenn das stimmt …«
    Hitzig fiel sie mir ins Wort:
    »Das stimmt. Doch die Menschen handeln falsch, wenn sie übertriebene Schlussfolgerungen aus ihrer göttlichen Abstammung ziehen. Irgendwo hat der Mensch das verspielt, was wirklich göttlich in ihm war. Träume nicht, Junge!«, sagte sie verärgert. »Der Mensch ist nur noch Mensch, nichts anderes.«
    Ich antwortete bescheiden, dass ich mich

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