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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Zauberkünsten beschäftigte, uns nach jeder Lese als Geschenk schickte. Skylla beugte sich über mich und saugte den feurigen Wein aus meinem Mund. Unsere Lippen pressten sich aufeinander, und ich erfuhr ergriffen, dass menschliche Lippen auch zu etwas anderem zu gebrauchen sind als zum Reden und Essen.
    »Was war das?«, fragte ich und holte tief Luft, als Skyllas durstige Lippen sich endlich von meinem Mund trennten und ich zu Wort kam.
    Skylla lachte. Mit beiden Händen brachte sie ihr Haar in Ordnung, das durch das Essen und die damit verbundenen anderen Bewegungen etwas zerzaust und verstrubbelt war. Ihr Gesicht glühte und war rot wie der Mond hinter den Schäfchenwolken einer Sommernacht.
    »Das ist ein Kuss«, sagte sie mit weichem Mund.
    Ich verstand das Wort nicht genau, trotzdem hatte ich das Gefühl, in diesen Augenblicken in den Besitz eines bedeutungsvollen Wissens gelangt zu sein. Ich sog den Mund wieder voll Wein, gewissenhaft, wie ich es Skylla versprochen hatte. Mein Gast war durstig und zögerte nicht, den Durst auf meinen heißen Lippen zu löschen. Wir tranken und küssten uns.
    Die Nacht, die besondere Lage, die Angst, die Vorsichtsmaßnahmen, die wir beim Essen einhielten, das alles versetzte nicht nur mich, sondern auch meinen schönen Gast in einen ungewöhnlichen körperlichen und geistigen Zustand. Aber diesen Zauber – die heiße Ekstase von Leib, Gaumen, Lippen und Nerven – empfand keiner von uns beiden als böse oder gefährlich. Der Kuss, der nach Skyllas Lehren eine Weise der Berührung zwischen Menschen ist, schien mir ein neues und dennoch entfernt bekanntes Erlebnis.
    Auf der Toteninsel, in der Welt der göttlichen und tierischen Wesen, bei denen ich aufgewachsen war, hatte ich niemals jemanden küssen sehen. Jetzt jedoch hatte ich diese sonderbare menschliche Mundbewegung kennengelernt, die war wie Streicheln und Beißen zugleich.
    »Das haben die Menschen erfunden?«, fragte ich Skylla etwas einfältig und keuchend zwischen zwei Küssen.
    Der schöne, kluge Mund des Mädchens schillerte von den Küssen und der Feuchte des Weins. Dieser Mund trennte sich jetzt von meinen durstigen und forschenden Lippen. Sie warf ihren von zerzausten Locken umkränzten, geröteten Kopf zurück, und ihre Augen glühten benommen. So sagte sie, etwas berauscht, ungestüm wie ein Kind, das bei einem geheimen Spiel in eine seltene Erregung gerät:
    »Das und noch einige ähnliche Möglichkeiten.« Sie lachte kurz und lüstern, als würde sie gekitzelt. Dann verfinsterten sich ihre schönen Augen, und sie sagte beinahe andächtig: »Telegonos, dein Vater war ein Mensch. Das fühle ich ganz gewiss.«
    »Du merkst es an meinen Küssen?«, fragte ich aufgeregt.
    Skylla nickte feierlich.
    »Ja«, sagte sie ernst. »Nur ein Mensch kann wirklich küssen.«
    Ich war ganz außer mir ob dieser wichtigen Nachricht. Skylla umarmte mich mit ihren muskulösen und dennoch duftig weichen Mädchenarmen. Sie setzte sich auf meinen Schoß, und unsere Körper verflochten sich sonderbar. Mit geschlossenen Augen und im Taumel der Küsse flüsterte sie:
    »Ja, du bist ein Mensch«, sagte sie, und es klang wie ein leiser Schrei. »Ich fühle es.«
    Und als wäre das die Nacht der Verwandlungen, hatte auch ich selbst das Gefühl, dass in dieser Nacht ein Zauber mit mir geschah. Ich wurde nicht zum Tier, weder zum Schwein noch zum Löwen. Aber ich wurde vom Kind zum Mann.
    IV
    Ich erwachte von einem Schrei. Aus einem tiefen und glücklichen Traum rief mich Skyllas Schrei in die furchtbare Welt zurück. Ich setzte mich auf der Liege auf, wo wir die Nacht im Halbschlaf, in großartiger Trunkenheit, verbracht hatten und erst gegen Morgen eingeschlafen waren. Das Erste, was ich erblickte, war meine fürchterliche, göttliche Mutter. Sie stand vor mir, die Hände in die Hüften gestützt. In einer Hand hielt sie ihre Schlangenhautpeitsche. Sie beugte sich zu uns, und ihre Augen glühten vor wirrer Empörung wie die Augen der Medusa.
    »Ich sehe«, zischte sie, »du bist ein gehorsamer Sohn. Du hast dafür gesorgt, dass das schöne Fräulein keinen Mangel leidet.«
    Skylla saß neben mir auf dem Diwan zwischen den zerwühlten Kissen und bedeckte sich in tugendhafter Verlegenheit die Augen mit den Händen. Meine Mutter ließ die Peitsche zu mir schwingen.
    »Was ist mit deinen Pflichten, Bengel?«, zischte sie. »Dein Großvater ist schon weit auf Himmelswegen, und die Welt ist voller Licht. Die Herde, die ich dir anvertraut habe,

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