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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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die einer Schlange, wenn sie im Gebüsch einen Menschen sieht.
    Mit verschränkten Armen stand sie da und sah auf das wogende Meerwasser in der Bucht, als suchte sie etwas in der Tiefe unter dem durchsichtigen, blassgrünen Wasserspiegel. Dann zuckte sie mit den schönen Schultern und warf den leeren Fischkorb ins Meer. Sie schaute mich nicht an und ging peitschenknallend ins Haus zurück. Erschrocken sah ich ihr nach. Ich wagte nicht, sie mit Fragen zu bedrängen. Schaudernd spürte ich, dass ich an diesem geheimnisvollen, Unheil verheißend zauberhaften Morgen an einen Brennpunkt irdischer und himmlischer Geheimnisse geraten war. Meine Mutter verschwand zwischen dem Laub der herabhängenden Lianen. Die Sonne brannte heiß über der Bucht von Aiaia. Mein Gesicht glühte, mein Hirn war heiß, als hätte die Glut wahnsinniger und unlösbarer Fragen es in Flammen gesetzt. Ich warf die Kleider ab und sprang in die weinfarbenen Wellen, um die Hitze meines Körpers und meines Hirns zu kühlen. Aber nach einigen Schwimmzügen klammerte ich mich entsetzt an den Riedblättern eines moosbewachsenen Uferfelsens fest. Ich wollte um Hilfe rufen, bekam jedoch keinen Ton heraus. Was ich sah, war mehr als fürchterlich.
    Auf einem Felsen lag ein Seeungeheuer. Noch nie hatte ich in der Bucht von Aiaia ein solches Ungetüm gesehen. Sein Leib war nicht größer als der eines Kindes oder jungen Mädchens. Es hatte einen Fischschwanz wie die Seepferdchen, auf denen die Nereiden reiten, und einen Spinnenleib mit mehreren Dutzend Fühlern und Scheren. Seine winzigen Krebsaugen blinzelten, und mit nervösen Bewegungen streckte es die Fühler zu den Muscheln und Schnecken aus, die am Felsen klebten. Das Ungeheuer sah schrecklich aus und wirkte doch verblüffend unbeholfen und ratlos. Die Krebsaugen glänzten im Licht wie Smaragde, und in dem Blick, mit dem das plumpe Wasserwesen mich anstarrte, lag etwas Hilfesuchendes wie zuvor im Blick der Eber … Die schreckliche Ahnung, die in diesem Augenblick mein Herz durchfuhr, brachte mich dazu, meine Angst und Abscheu zu überwinden und mich mit einigen kühnen Schwimmzügen dem Felsen zu nähern. Das Ungeheuer bewegte sich mit heftigen Schwanzschlägen. Es sprang ins Wasser, und ehe ich noch in seine Nähe kommen konnte, verschwand es in den tiefströmenden Wogen der Bucht.
    Ich kletterte ans Ufer und eilte nackt und klatschnass zu unserem Haus. Vermutlich bot ich einen sonderbaren Anblick. Mit vom Meerwasser glänzendem Körper und wirrem Haar rannte ich über den heißen Sand, getrieben von der Peitsche der Sorge und des Verlangens: Ich fürchtete um meine Geliebte und suchte sie. Skyllas Zimmer war leer. Ich rief den Namen meiner Liebsten, vor Schmerz und quälender Ahnung halb bewusstlos sah ich mich in dem Zimmer um, in dem ein ungemachtes Bett noch die Spuren der ersten Liebesnacht meines Lebens zeigte … Auf einem kleinen Kopfkissen vermeinte ich den Abdruck von Skyllas edlem, lockigem Köpfchen zu erkennen. Ich sank vor der Liege nieder und vergrub mein tränennasses Gesicht in dem Kissen. In dem feinen Leinen spürte ich noch den Duft von Skyllas Haar, und mit heftigem Schluchzen, mit nie gespürter Verzweiflung beweinte ich meine Liebste. Lange klagte ich so. Als ich aufsah, erkannte ich durch die Tränen undeutlich die erschreckende Gestalt meiner hehren Mutter. Sie stand mit verschränkten Armen reglos auf der Türschwelle. Mit vom Weinen heißer, versagender Stimme fragte ich:
    »Wo ist sie?«
    Meine Mutter blickte finster, zog die dichten Augenbrauen zusammen und warf den göttlichen Kopf zurück. Auf ihrem schönen, strengen Gesicht zeichneten sich Hochmut und der Ausdruck einer bitteren und traurigen Rache ab. Meine Frage beantwortete sie nicht. Ihrem Schweigen entnahm ich, dass mein grässlicher Verdacht berechtigt war und das Ungeheuer, das ich zuvor im Meerwasser verschwinden gesehen hatte – es war geflohen, als wollte es seine Schande vor mir verbergen – Skylla war. Ich schauderte.
    Meine Mutter sagte:
    »Weine nicht!«
    Ihre Worte zischten wie der Frühlingswind.
    »Du musst lernen«, sagte sie langsam und deutlich, »dass es nicht lohnt, eines Menschen wegen zu weinen.«
    Ich erhob mich von der Liege. Nackt und verlegen stand ich vor meiner Mutter. Ich begriff, dass meine Kindheit jetzt tatsächlich zu Ende und ich erwachsen geworden war. Aber es lag etwas in der Stimme meiner Mutter, das mich auch in diesem furchtbaren Augenblick nachdenklich machte. Ich begriff, dass

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