Die Frauen von Savannah
hatte deinen Vater schon um alle Unterlagen gebeten, aber ich nehme an, er hat es entweder vergessen oder noch nicht geschafft. Gertrude war sehr nett und hilfsbereit. Sie hat dich sehr lieb, Cecelia. Sie hat gesagt, du warst immer kerngesund, neigst aber dazu, Dinge in dich reinzufressen.« Tante Tootie sah mir tief in die Augen. »Durch Gertrude habe ich jetzt auch ein klareres Bild davon, was du mit deiner Mutter durchgemacht hast. Ach Liebes, es tut mir so leid. Ich hatte keine Ahnung, wie krank sie war.«
Ich war total verstört. Die so vertraute Scham trieb mir die Hitze ins Gesicht. Ich schaute weg und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Was hatte Mrs Odell Tante Tootie erzählt? Wie konnte sie mir das antun?
»Cecelia Rose, bitte sieh mich an«, sagte meine Tante und zog mir sanft die Hände vom Gesicht. »Bitte, ja? Eins sollst du wissen. Gertrude hat mir doch nicht von den Problemen deiner Mutter erzählt, um dich bloßzustellen. Sie hat es mir erzählt, damit ich über deine Geschichte Bescheid weiß, damit ich dich verstehen und dir helfen kann.«
Tat es Tante Tootie schon leid, dass sie mich aufgenommen hatte? Hatte sie Angst, dass sie eines Tages aus dem Fenster gucken und mich in einem zerschlissenen alten Cocktailkleid die Straße entlangstolzieren sehen würde?
Anscheinend war es egal, wie weit ich wegging, egal, wie sehr ich mich bemühte, alles zu vergessen – meine Vergangenheit würde immer irgendwo im Schatten lauern und nur darauf warten, mir eins überzuziehen. Ich drehte mich auf die Seite und vergrub das Gesicht im Kissen.
»Lass mich dir eine Geschichte erzählen«, sagte Tante Tootie und strich mir über den Rücken. »Einmal bin ich nachmittags einkaufen gegangen. Taylor war schon etwas mehr als ein Jahr tot, und ich trauerte zwar immer noch, aber ich hatte mich inzwischen ganz gut im Griff. Dachte ich jedenfalls. Ich stand in der Kassenschlange und sah in meinen Einkaufskorb. Und da lag zuoberst eine Packung von Taylors Lieblingseis – Erdbeerüberraschung. Ich hatte ihm jede Woche eine Packung gekauft, er mochte es so gern, dass es immer nach drei oder vier Tagen alle war. Ich habe mir nie was aus Erdbeereis gemacht, für mich hätte ich das niemals gekauft. Und glaub mir, ich konnte mich überhaupt nicht erinnern, das Eis in den Einkaufskorb gelegt zu haben, aber das musste ich wohl getan haben. Wie hätte es sonst hineinkommen sollen? Ich starrte das Eis an, und dann tat es mir plötzlich unglaublich weh. So weh, dass ich kaum atmen konnte. Ich habe den Einkaufskorb fallen gelassen und bin aus dem Laden gerannt.
Das ist alles, woran ich mich von dem Tag erinnere. Ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause gefahren bin. Oletta hat mich am nächsten Morgen auf dem Fußboden in meinem Zimmer gefunden. Ich war so durcheinander, dass ich nicht mal sprechen konnte. Aber mit ein bisschen Ruhe und Olettas Pflege ging es irgendwann wieder. Und dann habe ich ganz schnell wieder in mein normales Leben gefunden, habe Sachen unternommen und bin mit meinen Freundinnen irgendwohin gefahren. Aber ich musste erst tief in meinen Schmerz eintauchen, bevor ich weitermachen konnte.«
Ich rollte mich auf den Rücken und rieb mir die Augen. »Aber Tante Tootie, als Momma gestorben ist, habe ich nicht mal geweint. Ich hab’s versucht, aber es ging nicht. Und ich habe so ein schlechtes Gewissen, weil sie immer nur davon geredet hat, dass sie nach Georgia zurückwill, das war ihr großer Traum. Und jetzt bin ich hier statt ihr. Und ich hab Angst.«
Tante Tootie runzelte die Stirn und sah mich nachdenklich an. »Warum, Schatz? Wovor hast du denn Angst?«
Ich starrte an die Decke. Vor meinem geistigen Auge sah ich Bilder von Momma. Ich sah sie vor dem Badezimmerspiegel stehen, im Unterkleid und ihren roten Schuhen, und meinen Vater anschreien, der gar nicht da war. Und ich roch ihren sauren Geruch in den Zeiten, in denen sie so weit weg war, dass sie tagelang nicht badete.
Ich konnte Tante Tootie nicht mal ansehen. Es war, als würde ich neben mir stehen. Und gucken. Und warten. Und mich fragen, wer das Mädchen in dem Bett wirklich war und was aus ihm werden würde.
»Sprich mit mir, Liebes. Bitte. Ich muss wissen, wovor du solche Angst hast.«
Erst als meine Tante mir die Hand drückte, machte ich den Mund auf, und die Wahrheit blubberte aus mir heraus. »Ich habe Angst, dass ich nie ein normales Leben führen kann, egal, wie viele Bücher ich lese oder wie viel ich lerne. Weil ich nicht normal
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