Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von Savannah

Die Frauen von Savannah

Titel: Die Frauen von Savannah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beth Hoffman
Vom Netzwerk:
vermisste ich sie. Nicht die Momma, die sie kurz vor ihrem Tod gewesen war, sondern die, die sie war, bevor sie krank wurde.
    Ich hatte mich so lange für sie geschämt, dass alle guten Erinnerungen durch ihre Krankheit verzerrt und beschmutzt waren. Ich hatte vergessen, wie viel Spaß wir hatten, als ich noch ganz klein war, wie sie mir Gutenachtgeschichten erzählt hatte über Feen, die Gänseblümchen als Regenschirme benutzten, wie sie mir Malbücher gekauft hatte und wir am Tisch saßen und sie mir half, die passenden Farben auszusuchen. Und dann fiel mir etwas ein, das an einem kalten Wintermorgen passiert war, als ich nicht viel älter als drei Jahre gewesen sein konnte.
    Momma kam in mein Zimmer und weckte mich. Ihre Augen strahlten im violetten Licht des frühen Morgens. »Draußen ist etwas Magisches«, sagte sie und nahm mich auf den Arm. »Komm mal gucken.« Ihr Morgenmantel lag weich an meiner Wange, als sie mich die Treppe hinuntertrug.
    »Guck mal«, sagte sie und hielt mich vors Wohnzimmerfenster. »Siehst du, was die Engel gemacht haben? Ist das nicht hübsch? Sie sind heute Nacht gekommen, als du geschlafen hast, und haben Puderzucker aus dem Himmel gestreut. Cecelia, sieh doch mal, die Bäume. Hast du schon mal so was Schönes gesehen?«
    »Das ist Schnee«, sagte ich und rieb mir die Augen.
    »Nein, guck noch mal genau hin. Siehst du, wie es ganz oben in den Bäumen glitzert? Das ist Zucker.«
    Ich schaute aus dem Fenster und war verwirrt, beschloss dann aber, dass sie wohl recht hatte. Es war Zucker. »Warum, Momma? Warum haben die Engel das gemacht?«
    Sie drückte ihre Nase an meine und sah mir tief in die Augen. »Weil du das süßeste kleine Mädchen der Welt bist.«
    Es regnete jetzt heftiger, und ich fuhr mit dem Finger den Weg eines Regentropfens an der Scheibe nach. Mir tat das Herz weh, wenn ich daran dachte, wie oft sie gesagt hatte »versprich mir, dass du mich nie verlässt«.
    Ich hatte den Duft ihres Shalimar-Parfums in der Nase, und ich spürte ihren sanften Kuss auf meiner Wange.
    Und dann kamen sie. Tränen. Heiß und brennend.
    Keine Tränen um mich, meine Scham oder all die Dinge, vor denen ich mich fürchtete. Es waren Tränen um Momma: um ihre quälende Traurigkeit, um die Jahre, die die Krankheit ihr geraubt hatte, ihren schrecklichen Tod.
    Ich vergrub mich tiefer unter der Decke, und als der Regen gegen das Fenster prasselte und der Donner übers Haus rollte, schloss ich die Augen, ließ los und ließ mich in die Tiefe meiner Trauer fallen. Und im Fallen akzeptierte ich die Wahrheit, gegen die ich so lange gekämpft hatte: Ich vermisste meine Mutter.
    Ich wachte auf, als die Tür aufging und der würzige, warme Duft von Olettas Zimtschnecken zu mir drang, das erprobte und bewährte Mittel gegen Traurigkeit, Düsternis und alles, was einen quält. Sie stellte das Frühstückstablett aufs Bett und setzte sich neben mich auf die Fensterbank.
    Ihr Gesicht hing schief wie ein altes Gartentor, als sie meine Hand nahm. »Kind, Kind, du bist viel zu jung für so viel Traurigkeit in den Augen. Heut Morgen ist mir eingefallen, du hast mir noch gar nicht das Buch vorgelesen, wie du versprochen hast. Du weißt schon, das nächste Nancy Drew, von dem du mir erzählt hast.«
    »Ich habe versucht zu lesen, aber manchmal sehen die Wörter aus wie lauter kleine schwarze Käfer, die über die Seiten krabbeln. Tante Tootie sagt, ich soll mich ausruhen und mir Zeit lassen. Aber was ist, wenn es mir nie besser geht? Wenn die Wörter nie aufhören, sich zu bewegen?«
    Oletta sah aus dem Fenster, und ihre Augen schimmerten wie nasse Steine. »Vielleicht bewegen die Wörter sich, weil sie dir was zeigen wollen.«
    »Wie meinst du das?«
    »Guck mal raus. Siehst du das?«
    Ich beugte mich vor und drückte meine Nase ans Glas. »Was denn? Was soll ich sehen?«
    Sie griff über mich weg und schob das Fenster hinauf. Die vom Regen erfrischte Luft zog herein wie ein unerwartetes Geschenk.
    »Guck mal«, sagte sie und lächelte hinaus zu den Bäumen und den Vögeln. »Das da draußen ist das Leben. Siehst du, wie es sich bewegt? Sogar die Blätter an den Bäumen bewegen sich. Das Leben wartet auf niemanden, und auch wenn du was ganz Besonderes bist, auf dich wartet es auch nicht. Deswegen ist es Zeit, dass du beschließt, wieder mitzumachen.«
    Ich sah aus dem Fenster und dachte darüber nach. Und zum ersten Mal seit Tagen spürte ich ein Lächeln in meinen Mundwinkeln.
    Bevor sie ging, sagte Oletta,

Weitere Kostenlose Bücher