Die Frauen von Savannah
bin. Ich bin ihre Tochter. Ich werde bestimmt genauso verrückt wie sie.« Ich schluchzte auf. »Und das auf der Pfirsichfarm ist der Beweis. Es fängt schon an, ich werde verrückt.«
Tante Tootie zog ein Taschentuch aus der Tasche ihres Kleids und drückte es mir in die Hand. »Cecelia Rose, es ist nicht deine Schuld, dass deine Mutter ums Leben gekommen ist. Und was auch immer sie hatte, sie hat es dir nicht vererbt. Wir werden wohl nie verstehen, was alles passiert ist, aber so sicher wie ich hier auf dem Bett sitze, weiß ich, dass das, was im Kopf deiner Mutter kaputtgegangen ist, bei dir nicht kaputtgehen wird.«
»Wie das denn?«, quiekte ich. »Woher willst du das wissen?«
Sie nahm meine Hand, küsste sie und hinterließ einen zartrosa Lippenstiftabdruck. »Weil ich es einfach weiß. Das ist nichts, was mein Verstand mir sagt – sondern etwas, das ich spüre, im Herzen, und das ist ein großer Unterschied. Es sind unsere Herzen, die uns die Wahrheit sagen, Schatz, und mein Herz hat mich noch nie betrogen. Noch nie.«
»Aber ich habe Psychose im Wörterbuch nachgeschlagen, und da stand, dass psychische Krankheiten manchmal vererbt werden. Und …«
Tante Tooties Stimme war so fest, dass sie mich erschreckte. »Cecelia Rose Honeycutt, du wirst nicht verrückt.« Sie beugte sich zu mir, und ihre Stimme wurde weicher. »Und ich weiß noch etwas. Vielleicht glaubst du, dass du nicht trauerst, aber Trauer kann alle möglichen Formen haben. Manche Trauer betäubt einen geradezu, und andere Trauer reißt ein Loch in die Welt. Und dann gibt es die Sorte Trauer, die sich gar nicht anfühlt wie Trauer. Die ist wie ein kleiner Splitter, von dem man nicht mal weiß, dass man ihn hat, bis er so tief eingedrungen ist, dass er sich nirgendwo anders entzünden kann als in der Seele. Ich glaube, das ist die schlimmste Art der Trauer, weil man weiß, dass einem etwas wehtut, aber man weiß nicht, was.«
Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Und weißt du, was ich noch glaube?«
Ich wollte kein Wort mehr hören, aber ich wollte auch nicht harsch sein, also seufzte ich und sagte: »Was?«
»Ich glaube, solange deine Mutter gelebt hat, hast du gehofft, eines Morgens aufzuwachen, und sie wäre gesund. Und wäre dir eine richtige Mutter. Dann hättest du so leben können, wie Kinder leben sollten. Aber der Tag ist nie gekommen. Ach Schatz, du hast so lange so viel ausgehalten. Du warst ganz schön tapfer.« Sie drückte mir die Hand an die Wange und legte den Kopf schief. »Aber selbst der Tapferste kann nicht so viel Schmerz aushalten. Und bei dir kommt zu dem ganzen Schmerz auch noch die Trauer. Nicht nur die um die Mutter, die du hattest, sondern auch um die Mutter und die Kindheit, die du nicht hattest.«
Die nächsten paar Tage blieb ich im Bett und schlief eine Menge, aber in stillen Nachtstunden stand ich auf und machte das Licht im Badezimmer an. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, beugte mich zum Spiegel und sah mir tief in die Augen. Ich wusste, was passiert, wenn man verrückt wurde. Ich hatte jahrelang beobachtet, wie die Augen meiner Mutter sich weiteten, bis sie nur noch runde schwarze Löcher waren. Immer, wenn das passierte, wusste ich, dass ein Sturm aufzog. Ich schwor mir, dass ich mich, sollte ich auch nur das leiseste Anzeichen für diese Leere in meinen eigenen Augen entdecken, sofort von der nächsten Brücke stürzen würde.
Ich starrte so lange in den Spiegel, bis ich sicher war, dass meine Augen normal waren, dann ging ich wieder ins Bett. Aber ich lag wach und dachte an all das, was mir in den ersten zwölf Jahren meines Lebens widerfahren war – den Jahren, die jetzt um mich herum zusammenbrachen und so leblos und platt waren wie die Bettlaken.
In dem großen Bett fühlte ich mich klein und verloren, daher nahm ich eines Nachts eine Decke und ein Kissen und baute mir ein Nest auf der Fensterbank. Die Knie an die Brust gezogen, lehnte ich den Kopf ans Kissen. Es fing an zu nieseln, in der Ferne hörte ich Donner grollen, und ich dachte an das bevorstehende Schuljahr und fragte mich, wie ich mich da einleben sollte. Ich konnte zwar Wörter von Archipel bis Zyste richtig schreiben und wusste, was sie bedeuten, aber ich hatte keine Ahnung, wie man mit Mädchen in meinem Alter umging.
Ich sah Regentropfen an der Fensterscheibe hinunterrinnen und dachte an Momma und all die verrückten Dinge, die sie gesagt und getan hatte. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber irgendwie
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