Die Frauen
mich auf meinen Koautor und Übersetzer verlassen (den jungen Seamus O’Flaherty, einen irischstämmigen Amerikaner, der mit meiner Enkelin Noriko verheiratet ist und dessen bisher unveröffentlichte Übersetzungen von Fukazawa und Shimizu, wie ich höre, ziemlich neuartig sind), und seine Ausdrucksweise, das muss ich zugeben, erscheint mir doch oft recht eigenartig.
Dennoch bleibt die Frage bestehen: Kannte ich den Mann, den wir Japaner als Wrieto San verehren? Wer war er tatsächlich? Der Held, der, wie er in seiner Autobiographie behauptet, nach fünfjähriger Arbeit am Hotel Imperial (und einer Budgetüberschreitung, die Baron Ökuras Geldgeber fast in den Ruin getrieben hätte) unter Hochrufen - »Banzai, Wrieto-San! Banzai!« - im Triumph durch Tokios Straßen geführt wurde? Oder der verschwenderische Filou, der in Ungnade, wenn nicht Schande, von der Baustelle, von der Arbeit, aus dem Land vertrieben werden musste? War er das gekränkte Genie oder der Schürzenjäger und Soziopath, der das Vertrauen von praktisch jedem, den er kannte, missbrauchte, besonders das der Frauen, ja, besonders das ihre?
Tadashi Sato
Nagoya, 9. April 1979
Kapitel 1
FÜR DIE TOTEN TANZEN
An dem Tag im Herbst 1924, als er bei einer Ballettvorstellung in Chicago Olga Lazovich Milanoff Hinzenberg kennenlernte, war Frank Lloyd Wright* optimistisch gestimmt, geradezu vergnügt. Mag sein, dass es an jenem Tag regnete - doch, es regnete, das graue Gestrichel verwandelte die nähere Umgebung in ein pointillistisches Gemälde, gebeugte Gestalten stapften unter dem Schutz ihrer Regenschirme die Straße entlang, Graupelschauer waren angekündigt, gefolgt von Schnee -, doch seine Stimmung war durch nichts zu trüben. Er hatte sich immer als ein heiteres Gemüt betrachtet, sonnig und übersprudelnd, als einen jener seltenen Menschen, die die Stimmung eines ganzen Raums verändern können, indem sie einfach nur zur Tür hereintreten, doch die Gefühlswirren der letzten zwei Jahre - jedenfalls seit seiner Rückkehr aus Japan - hatten ihn zermürbt. Das Problem, oder vielmehr dessen Gipfel und Krönung, war natürlich Miriam. Hinzu kamen Geldnöte. Zu wenige Aufträge, hasenherzige Kunden und die tief verwurzelte Ignoranz (und Feigheit, auch Feigheit) seiner Landsleute angesichts der Fauvisten, Futuristen, Dadaisten, Kubisten und all der anderen -isten und -ismen, Duchamp, Braque und Picasso sowie, noch schlimmer, des soi-disant Internationalen Stils von Le Corbusier, Gropius, Meyer, Mies - all dieser neuen Bewegungen, durch die er sich veraltet und bedrängt fühlte. Das alles machte die Sache nicht besser. Während er im Fernen Osten gewesen war, waren die Europäer in Amerika eingefallen.
* Im Original Wrieto-San.
Doch es ging bergauf. Miriam war fort, seit Mai, mochte er auch, jedesmal wenn er über einer Zeichnung oder einem Buch die Augen schloss, ihr Gesicht sehen, das tragische, das sie wie eine Maske trug:
Es erschien vor seinem inneren Auge, um sich schließlich in einem Wirbel dunkelvioletter Flecken aufzulösen. Trotzdem, sie war fort, und in Taliesin herrschte wieder Frieden. Zur Zeit wohnten drei junge Paare dort - die Neutras, die Tsuchiuras und die Mosers -, und es gab Musikabende, Kameradschaft, die Beschaulichkeit vorm Kamin. Und nun war er geschäftlich wieder hier in Chicago, stampfte sich im Theaterfoyer den Regen von Hut und Mantel, reif für ein bisschen Unterhaltung.
Ein Freund* hatte ihn gefragt, ob er Lust habe, am Nachmittag die Vorstellung der Karsavina zu besuchen, die Auszüge aus »Dornröschen«, »Die schlecht behütete Tochter« und »Les Sylphides« darbot, und er hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, mochte die Primaballerina ihre besten Zeiten auch längst hinter sich haben und ihre überirdische Schönheit nur noch ein Schatten dessen sein, was sie einst gewesen war. Er wollte gesehen werden, und sei es nur, um ein paar Fusseln von der mottenzerfressenen Decke der Gerüchte und blanken Lügen abzuschütteln, die die Klatschmäuler über ihm ausgebreitet hatten - er würde am Ersten des Jahres hier wieder ein Büro eröffnen und musste Präsenz zeigen. Na schön. Draußen regnete es, die Tür öffnete und schloss sich, ließ einen Hauch des sich ankündigenden Winters herein, im Foyer herrschte Gedränge: Männer in modischer Aufmachung oder in dem Anzug, den sie in der Kirche getragen hatten, in Perlen und Pelze gehüllte Frauen, deren Stimmen zwitschernd und tirilierend
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