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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Betrachten, und er wollte mehr, viel mehr, er wollte Kontakt,
    Anerkennung, einen Blick, ein Lächeln. »Die sind vollkommen leblos«, murmelte er, zu Albert gebeugt, und das verblüffte Gesicht seines Freundes schien im Lichtschein der Bühne zu schweben wie eine Kürbislaterne an einem Draht. »Wie tot«, sagte er, gerade so laut, dass sie es hören konnte - und sie hörte es auch, das merkte er an ihrer Reaktion, wenngleich sie den Blick nicht von der Bühne wandte -, »Tote, die für Tote tanzen.«
    In der Pause - sobald der Applaus erstorben war und noch ehe sie aufstehen und allein davonspazieren konnte - beugte er sich an Albert vorbei zu ihr hinüber und sagte: »Ich habe Ihre Reaktion gesehen - Sie stimmen mir zu, oder? Dass die Karsavina bei der Inspiration, die sie heute an den Tag legt, ebensogut in London hätte bleiben können? Vermutlich sogar lieber in London wäre. Um zu stricken. Oder was immer sie dort tut.«
    Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen. Er konnte nicht wissen, was er da sagte, konnte nicht wissen, dass in seinem Kommentar während der Aufführung eines der Dikta Gurdjieffs* angeklungen war, ihres Meisters, der stets danach getrachtet hatte, die Menschheit aus der Leblosigkeit der physischen Welt wachzurütteln und zum Bewusstsein der jenseits davon liegenden mystischen Wahrheiten zu führen, oder dass sie eine von Gurdjieffs führenden Danseuses gewesen war und Paris erst drei Wochen zuvor auf Gurdjieffs Drängen verlassen hatte, nachdem sie ihn so lange gepflegt hatte, bis die schlimmsten Verletzungen verheilt waren, die er bei einem lebensgefährlichen Autounfall davongetragen hatte, oder dass sie Nachmittag für Nachmittag Holz gehackt hatte, um ihn mit Brennstoff einzudecken, damit er den Unbilden des Winters trotzen konnte - und er konnte auch nicht wissen, dass sie auf einer elementareren Ebene mit seiner Einschätzung der Karsavina ganz und gar übereinstimmte. »Ja«, sagte sie, »Sie haben vollkommen recht. Das ist eine völlig mechanische Darbietung. Eine Blamage.«
     
    * Georgei Iwanowitsch Gurdjieff 1866(?)—1949. Philosoph, Komponist, Schamane, Hypnotiseur. Hauptwerk: Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel. Vertrat sein Leben lang eine Doktrin namens »Der Vierte Weg«, eine wirre Seinsphilosophie mit eigenem Mythos und eigener Kosmologie, die ihm eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft gewann, deren Mitglieder er willkürlich in den engeren Kreis aufnahm oder verstieß. Er war einmal in Taliesin, ich glaube, es war 1938 - ein watschelnder, uralter armenischer Türke oder Zigeuner mit einem so unverständlichen Akzent, dass er ebensogut durch einen Knebel hätte sprechen können. Ich weiß noch, dass ich ihn jeden Morgen von ferne sah, ein wandelndes Lumpenbündel, das sich mit Mrs. Wright unterhielt, während Wrieto-San wutschnaubend in seinem Atelier saß.
     
    Der Klang ihrer Stimme fesselte ihn. Leise, rhythmisch, die Betonung erschuf eine ganz eigene Musik, und was war das für ein Akzent? Irgendein osteuropäischer - polnisch? rumänisch? Er sagte: »Sie ist mit einem Diplomaten verheiratet, nicht wahr?
    Und leitet jetzt eine Schule« - er hatte das dem Programm entnommen und fügte überflüssigerweise hinzu - »in London.«
    »Die Royal Academy of Dance. Sie hat bei der Gründung mitgewirkt.«
    »Ja«, sagte er an Alberts flammendrotem Gesicht vorbei, »ja natürlich. Aber vielleicht darf ich mich vorstellen - mich und meinen Freund: das ist Albert Bleutick -«
    Sie senkte kurz die Augen, dann schaute sie ihn wieder an. »Aber Sie müssen sich doch nicht vorstellen«, murmelte sie, und er spürte, wie ihm das Blut durch die Adern schoss, als hätte man eine zu enge Binde gelöst. »Das ist ja wohl gewiss nicht der Fall, nein? Aber ich bin Olga Milanoff. Für meine Freunde« - und hier hielt sie inne, damit er die vielfältigen Bedeutungsnuancen erfassen konnte, die in diesem Hinweis mitschwangen - »Olgivanna.«
    Irgendwo, irgendwie verloren sie Albert im Getümmel, und Frank konnte sich nicht erinnern, wann oder wo das passiert war - auf dem Weg zum Tanztee, zu dem er sie eingeladen hatte, oder erst dort? Egal. In der Pause verließen sie zu dritt ihre Plätze, kämpften sich einen Weg hinaus und hielten auf der regennassen Straße nach einem Taxi Ausschau, und die ganze Zeit konnte er an nichts anderes denken als an den Kitzel der sich anbahnenden Affäre, die das alte libidinöse Feuer von neuem schürte* und den Puls der Möglichkeiten

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