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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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herrschte trübes Wetter, düstere Wolken hingen über den Dächern wie trocknende Wäsche, und es war so kalt, dass selbst die schmutziggrauen, rattengleichen Tauben sich aneinanderdrückten: auf den Dachfirsten rechts und links, so weit sie sehen konnte, dunkle, stille Reihen kalter Federn und regloser Schnäbel. Sie war seit zwei Tagen nicht mehr aus dem Haus gegangen, hatte ihr Schultertuch nicht abgelegt, denn diese Kälte war wie eine Art kosmischer Witz, eine Kälte, wie Paris sie nicht erlebt hatte, seit die Gletscher sich in irgendeiner unvordenklichen prähistorischen Zeit, als die Menschen noch in Höhlen lebten, zurückgezogen hatten. Chicago. Wie konnte man hier leben?
    Natürlich, rief sie sich in Erinnerung, war sie jetzt ein Flüchtling* und würde das Beste daraus machen müssen. Und Norma war nett, wirklich, auch wenn die Wohnung vollgestellt und überheizt war, die Tapete lächerlich und die Dekoration das, was man in einem Kuriositätenladen erwarten würde - was war eigentlich aus dem Geschmack ihrer Tochter geworden? Hatte sie denn aus dem Beispiel ihrer Mutter gar nichts gelernt? War das alles Emils Erbe? Für einen Augenblick stand vor ihrem inneren Auge das Gesicht ihres verstorbenen Mannes: Er war ein guter Mann gewesen, wirklich - ruhig, rücksichtsvoll, hilfreich -, aber er hatte in seinem ganzen Körper ungefähr soviel künstlerische Sensibilität gehabt wie sie in ihrem kleinen Finger. Diese Wohnung. Normas Garderobe. Ihr Schwiegersohn. Plötzlich spürte sie Zorn in sich aufwallen, die Worte lagen ihr bereits auf der Zunge, kritische, verletzende Worte, ja, aber zugleich konstruktive, aufbauende Worte, denn es war eine Tragödie, so zu leben, so zu - In diesem Augenblick sagte Norma: »Mama, hier ist was für dich.«
     
    * Sie hatte Paris zwei Monate zuvor im Zuge des Exodus der Ausländer nach der ersten Schlacht an der Marne verlassen.
     
    Und dann hielt sie ihn in der Hand, einen elfenbeinweißen Umschlag mit einem roten Quadrat in der linken unteren Ecke, darüber die Initialen FLLW. Sie stellte die Teetasse ab. Vielleicht bildete sie es sich ein, aber der Tag schien sich merklich aufzuhellen, als gäbe es dort draußen in all dieser Trübnis tatsächlich eine Sonne. Der Zorn, den sie eben noch so deutlich empfunden hatte, löste sich in rotgoldener Wärme und Befriedigung auf. Norma musterte sie. »Was ist es, Mama?« fragte sie, ein gespanntes Lächeln auf den Lippen. »Gute Nachrichten?«
    Miriam gab keine Antwort, jedenfalls nicht gleich. Sie wollte sich Zeit lassen, denn sie brauchte den Brief nicht zu öffnen, noch nicht - sie wusste bereits mehr oder weniger, was darin stand. Er würde ihr mit wohlgesetzten, galanten Worten danken. Zum Ausdruck bringen, wie tief ihr Mitgefühl ihn bewegt habe und wie sehr er sich wünsche, dieses Gefühl zu erwidern. Er würde auch fasziniert sein - er würde wissen wollen, wer diese Frau war, die sein Herz so gut kannte. All dies würde in dem Brief stehen und noch mehr: eine Einladung. Zu einem Treffen. In seinem Studio. In seinem Haus. In einem großartigen Raum irgendwo, einer seiner illustren Schöpfungen, sanft beleuchtet von seinen exquisiten Lampen, wo der Schein des Kaminfeuers auf den geölten Deckenbalken tanzte und seine Farbholzschnitte und Keramiken aus den Schatten hervortraten und die perfekten Akzente setzten. Er fühle sich geehrt und so weiter, und er wolle sich in keiner Weise aufdrängen, doch er müsse sie, dieses Wunder an Einfühlungsvermögen, unbedingt sehen, und sei es nur für ein paar wenige, flüchtige Augenblicke.
    Natürlich entspricht die Realität einer bestimmten Situation oft nicht unbedingt den daran geknüpften Erwartungen - ihre Jahre mit Emil hatte hatten ihr diese Erkenntnis nur zu deutlich vor Augen geführt -, und die Antwort des Architekten war nicht ganz so, wie sie sich sich erhofft hatte. Gewiss, er war fasziniert - wie hätte es anders sein können? Und doch war er auch distanziert, denn er kannte sie nicht und war nicht annähernd imstande, in den Worten, die sie zu Papier gebracht hatte, ihr wahres Ich zu erkennen - vielleicht hielt er sie für eine überspannte alte Jungfer mit einem Hang zum Poetischen, eine Salonphilosophin, eine Schwärmerin, die sich an seine Füße klammern wollte, während er zum Gipfel des Olymps der Architektur schritt -, und so enthielt der Brief keine Einladung.
    Aber er war eindeutig interessiert. Das merkte sie bereits beim Lesen der ersten Zeilen.
    Jeder

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