Die Frauen
gegenüber ihre volle Wirkung entfalten, en ensemble, und nun hatte sie einen Augenblick Zeit, den Faltenwurf des Capes zu ordnen und sich in Pose zu setzen. Der Sessel gehörte, wie sie jetzt feststellte, zu einer Gruppe von dreien - die anderen beiden flankierten einen kleinen, mit Intarsien verzierten Tisch, der an der Wand stand - und war vor einen großen, mit einer riesigen Vase voller Schnittblumen dekorierten Tisch gestellt worden. Die Blumen verströmten dem Wetter und der Jahreszeit zum Trotz ihren Duft und ihre Schönheit; hinter dem Tisch stand ein orientalischer Wandschirm mit einer dunklen, gekrümmten Kiefer, in deren Ästen ein Kranichpaar nistete. »Mr. Wright wird gleich hier- sein«, flüsterte der Assistent, bevor er hinausschlich. Ein Augenblick verging, es war still wie in einer Kirche, und plötzlich war er da, der Mann, den sie im Korridor gesehen hatte, katzengleich, hellwach, präsent, unerhört präsent, und war es möglich? Das ergrauende Haar, der wie aus Marmor gemeißelte Kopf? Aber natürlich, natürlich. Diese Augen. Die vom Kummer gegrabenen Falten rings um den Mund. Er war angespannt, heroisch und jung, viel jünger, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte ... »Madame Noel?« sagte er, trat um den Tisch herum auf sie zu, verbeugte sich kurz und nahm ihre Hand. »Es ist mir ein großes Vergnügen -« begann er und verstummte, denn er brachte die üblichen Begrüßungsfloskeln nicht über die Lippen: Sie waren unzulänglich, völlig ungenügend, sie verfälschten alles, was er in diesem Augenblick empfand. Miriam sah es sofort, sie sah in seinen Augen die Macht, die sie über ihn hatte, sie sah den Hunger, die Verwirrung, den Blick reiner Verwunderung, der an ihrem Körper hinauf- und hinabglitt, als wären es seine Hände, und noch etwas anderes, etwas Tieferes, Ursprüngliches, etwas, das in seiner Unmittelbarkeit und Bedürftigkeit ganz und gar bloßgelegt war.
Sie schenkte ihm ein langsames, sanftes Lächeln und den Druck ihrer Fingerspitzen auf seiner Hand, dann ließ sie die Hand sinken, beugte sich vor und legte ihr goldenes Zigarettenetui auf die eine Ecke des Tischs und das kleine, in Leder gebundene Buch, das sie ihm mitgebracht hatte, auf die andere. »Oh, glauben Sie mir, das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, sagte sie und senkte ihre Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern, ein Schnurren war. »Oder nein, das ist nicht das richtige Wort. Es ist eine Ehre. Es ist eine Ehre, in Ihrer Gegenwart zu sein.«Er errötete, rang um Fassung, und seine Stimme war mit einemmal zu laut: »Nein,
nein, ich meine es wirklich so, es ist mir ein Vergnügen. Sie ... Ihr Brief. Ihre Briefe.« Er wich vor ihr zurück wie vor einer Stichflamme, die von einem Stück Pechkiefer aufloderte, und setzte sich an die andere Seite des Tischs. »Ich war tief berührt«,
sagte er. »Sie wissen sich hervorragend auszudrücken, Ihre Beherrschung der Sprache ist phänomenal.«
Sie sah zu ihm auf und hielt seinen Blick fest, dann schlug sie die Beine übereinander und begann, Finger für Finger und so lässig und elegant wie möglich, die Handschuhe auszuziehen. Er ließ sie nicht aus den Augen, als führte sie gerade ein Wunder an Fingerfertigkeit vor. »Erlauben Sie, dass ich rauche?« fragte sie und nahm das Zigarettenetui so in die Hand, dass er ihre eingravierten Initialen und das Et-Zeichen sehen konnte, das diese mit denen des Mannes verband, der ihr das Etui geschenkt hatte.
»Aber ja, bitte, bitte.« Und er beugte sich vor, um ihr Feuer zu geben, doch seine Augen blieben auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß den Rauch aus. Sie war jetzt in ihrem Element und fühlte sich so sicher wie ein Tümmler im tiefen, wogenden Meer. »Und«, sagte sie, senkte das Kinn und sah ihn an, »wie gefalle ich Ihnen?«
Er stutzte einen Augenblick - er war, wie sie bald erfahren sollte, nur selten um Worte verlegen -, und dann sagte er einfach die Wahrheit, die erfreuliche Wahrheit: »Ich habe noch nie eine Frau wie Sie gesehen.«
Sie ließ ihr Lächeln abermals erblühen, und dann - hatte sie sich jemals so frei, so unwiderstehlich gefühlt? - begann sie Rimbaud zu zitieren, mit dem Akzent der aus ihrer Heimat verpflanzten Pariserin, die sie ja war, und selbstverständlich hatte er noch nie eine Frau wie sie gesehen, wie sollte er auch? »Mais, vrai, j’ai trop pleuré! Les Aubes sont navrantes. / Toute lune est atroce et tout soleil amer: / L’âcre amour m’a
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