Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
hätte es gemerkt. Und sie verfasste sogleich eine Antwort. Ihr zweiter Brief geriet noch überschwenglicher als der erste (und warum auch nicht? Ihr Herz war so groß, so freigebig, dass sie ihre Gefühle nicht unterdrücken konnte), und diesmal schrieb sie ihm mehr von sich selbst, von ihrer Flucht aus Paris, ihren romantischen Sehnsüchten, von ihrem Leben, das sie in den Dienst der Kunst gestellt hatte, und sie fand ein Dutzend Arten, sein Genie zu preisen, das die allerhöchste Kunstform von allen für eine ganze Generation revolutioniert hatte. In einer Nachschrift bat sie um ein Treffen, und sei es auch noch so kurz, denn ihr Herz gebe ihr einfach keine Ruhe, wenn sie daran denke, dass er in seiner Qual allein sei. Sie schloss den Brief mit den Worten: Mit großer Sympathie und Hoffnung, Madame Noel.
    Die Antwort kam postwendend. Er werde sich freuen, sie in seinem Studio in Orchestra Hall zu empfangen* und ihr, sofern sie es wünsche und es ihre Zeit erlaube, einige neue Proben seiner Kunst zu zeigen. Ob es ihr am kommenden Donnerstag um fünf Uhr passe? Falls nicht, so werde er mit Freuden ein Treffen zu einem anderen Zeitpunkt arrangieren. Er erwarte ihre Antwort und freue sich sehr darauf, sie kennenzulernen.
    Und er war, wie sie erwartet hatte, »mit herzlichen Grüßen, Ihr Frank Lloyd Wright«.
     
    * Während seiner ganzen Karriere legte Wrieto-San Wert darauf, sich mit anderen Leuten in seinem Studio zu treffen, wo er sich unangreifbar und als Herr der Lage fühlen konnte - wie eine Schildkröte, die von einem goldenen Panzer geschützt wird.
     
    Sie verwendete drei Stunden auf Garderobe und Make-up, verwarf ein Kleid nach dem anderen und entschied sich schließlich für ein enganliegendes Gewand aus chartreusegrünem Samt, das Hals, Schultern und Arme perfekt zur Geltung brachte. Sie puderte sich das Gesicht, schminkte Augen und Lippen und bürstete ihr Haar - es war immer schon ihre Zierde gewesen, so voll wie das einer Debütantin und ohne eine einzige graue Strähne in den rotbraunen Locken, die üppig über ihren Nacken fielen -, und dann wählte sie, nachdem sie sich in einem hohen Spiegel eingehend gemustert hatte, ihren Schmuck aus: einige Ringe - darunter natürlich der Skarabäus -, das mit Diamanten und Staubperlen besetzte Kreuz an der rotgoldenen Kette, das seinen Blick auf ihren Hals lenken sollte, sowie die an einem Seidenband träge baumelnde Lorgnette. Er sollte sie so sehen, wie sie war: au courant, kultiviert, eine begabte Künstlerin, die im Louvre ausgestellt hatte und mit den Salons von Paris très intime war, eine Frau von Format und Charakter, eine natürliche Schönheit, deren Präsenz und Raffinement den Rest der Frauen, die sich auf den Straßen von Chicago herumtrieben, wie Bauerntrampel wirken ließen. »Wie sehe ich aus?« rief sie Norma zu, als sie schwungvoll ins Wohnzimmer trat. Und Norma, die Gute, hob den Kopf und sah ihre Mutter mit echter Bewunderung an. »Oh, Mama, du siehst aus, als wärst du gerade eben aus einem Pariser Modejournal getreten!«
    Sie drehte sich zweimal um sich selbst und genoss den perfekten Sitz des Kleides und das weiche Fließen des Saums an ihren Knöcheln. »Und was hältst du davon, wenn ich darüber das hier trage?« Sie betrachtete sich im Spiegel über der Anrichte, legte sich ein Sealcape um und beugte sich dann vor, um die dazu passende Mütze auf ihren Locken festzustecken. Rasch zog sie noch einmal die Konturen ihrer Lippen nach und verzog den Mund zu einem unwiderstehlichen Schmollen - soll er doch versuchen, mir zu widerstehen, soll er es nur versuchen, dachte sie, erfüllt von einer berauschenden, schwindelerregenden Freude, die sie beinahe abheben ließ -, und dann wirbelte sie herum, damit Norma sie bewundern konnte.
    »Und?« sagte sie.
    Norma war aufgestanden, trat zu ihr und strich über den Pelz. »Oh, Mama«, flüsterte sie, »wie schön du bist!«
    Und Miriam schwebte, sie schwebte, sie brauchte keine Spritze, nicht jetzt, nicht in dieser Stimmung, die mit keinem Elixier erzeugt oder gar verbessert werden konnte: Sie war schön, wirklich schön, und sie wusste es. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel, rückte die Mütze zurecht und strich sich über das Haar. Dann richtete sie sich auf, sah ihre Tochter mit einem strahlenden Lächeln an und fühlte sich wie eine Schauspielerin, die in den Kulissen auf ihr Stichwort wartet. Die ganze triste Wohnung war mit einemmal von ihrer Trübseligkeit befreit und von einem

Weitere Kostenlose Bücher