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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und kennen will. Von Freunden, Kunden, Verwandten. Alle anderen verbrennen Sie. Ich will sie nicht sehen.«
    Und so geschah es. Doch die Sekretärin, eine besonnene Frau, legte besonders mitfühlende oder faszinierende Briefe zur Seite, denn sie glaubte, sie würden auf eine ganz eigene, heilsame Weise sein Selbstgefühl ansprechen. Alle paar Tage schnürte sie diese Briefe mit einem Band zusammen und legte ihm das Bündel auf den Tisch. »Ich dachte, die hier könnten Sie vielleicht interessieren«, sagte sie dann und fügte hastig hinzu: »Die anderen habe ich verbrannt.«
    Eines Morgens Anfang Dezember legte sie ihm einen einzelnen Brief auf den Schreibtisch. »Der scheint wirklich von Herzen zu kommen«, murmelte sie, und er blickte auf, als ihre Stimme stockte. Sie lächelte schwach und entschuldigte sich.
    Draußen fiel ein kalter Regen. Er stand kurz auf, um das Feuer zu schüren, dann kehrte er zu der Zeichnung zurück, an der er gerade saß, und schob den Brief an den Rand des Schreibtischs. Während der nächsten Stunde schaute er kaum auf, probierte eine Idee nach der anderen für die Japaner aus - ihm schwebte ein Hotel vor, das weder östlich noch westlich war, ein imposantes Gebäude, das einige der strukturellen Elemente von Midway Gardens enthalten könnte, Schichtenmauerwerk, Ziegel, davor ein Teich, der das Gebäude widerspiegeln und auf den Boden holen würde - es waren bloß Rohentwürfe, mehr nicht, denn noch hatte er den Auftrag nicht in der Tasche.
    Doch er würde ihn bekommen, davon war er überzeugt, und er konnte nicht umhin, sich das Honorar auszurechnen, das bei einem Projekt mit nahezu unbegrenztem Budget - zwei Millionen, drei, vielleicht sogar noch mehr - für ihn herausspringen würde. Er hatte den Brief vollkommen vergessen, doch als er das nächstemal aufschaute, fiel er ihm ins Auge, ein cremefarbener, mit den Initialen MMN versehener Umschlag.
    Er nahm ihn träge zur Hand, in Gedanken noch in Japan. Ein schwacher Parfümduft stieg ihm in die Nase, als befände sich plötzlich jemand Unsichtbares im Zimmer, eine Frau, schlank, kultiviert, nur als Abstraktion gegenwärtig. Er hielt sich den Umschlag an die Nase - er konnte nicht anders, wie lange war es her? In einer kühn geschwungenen Schrift, die ihn vom Blatt anzuspringen schien, war der Brief an Mr. Frank Lloyd Wright, Architekt adressiert, und als Absender waren eine Straße und ein Arrondissement in Paris angegeben, doch der Poststempel stammte aus Chicago, Illinois. Er faltete den Brief auf, begann zu lesen und vergaß sofort alles um sich herum, als stünde er unter einem Bann:
     
    Sehr geehrter Mr. Wright,
    ich schreibe Ihnen, um Ihnen mein tiefes Beileid und mein Entsetzen angesichts Ihres tragischen Verlusts auszudrücken, denn ich weiß, wie schmerzlich ein solcher Verlust sein kann, besonders zu dieser Jahreszeit, da Weihnachten naht und wir alle auf unsere Momente des Kummers und des Glücks zurückblicken, als betrachteten wir unser Spiegelbild im unermesslichen dunkelnden Meer unseres Lebens. Ach, was mutet uns das Schicksal zu! Liebe und Tod halten sich die Waage, grausam, so grausam! Auch ich habe die schreckliche Tragödie eines Verlusts in der Liebe und im Leben erlitten, und ich kann Ihnen nur raten, nicht an das zu denken, was hätte sein können, sondern einzig und allein daran, dass der geliebte Mensch nun in die Ekstase ewigen Seins emporgestiegen ist. Wir sind verwandte Seelen, wir beide. Geplagte Seelen, die sich danach sehnen, zwischen den wütenden Wogen des dunklen Ozeans der Verzweiflung die Gestade der Heiterkeit und Blumenfülle zu erspähen ...
    Die selbstbewusste, flüssige Handschrift trug ihn durch fünfzehn engbeschriebene Seiten, die ihm Hoffnung und Resignation zu gleichen Teilen boten und ihm in Aussicht stellten, dass ihn, genau wie sie und all jene, die ungebeugten Geistes durchs Leben schritten, neue Verbindungen, neue Herausforderungen und Freuden erwarteten. In Anteilnahme und hoffnungsvoller Zuneigung, schloss die Briefschreiberin und gab eine Adresse in Chicago an, über die sie mit ekstatischem Schwung ihre Unterschrift gesetzt hatte: Madame Maude Miriam Noel.

Kapitel 2
    AUFTRITT MIRIAM
     
    Sie saß auf dem weichen Sofa in Normas Salon - oder vielmehr Wohnzimmer, wie man es hier nannte -, trank eine Tasse Tee und schob mangels eines besseren Zeitvertreibs die Teile eines Puzzles auf dem Beistelltisch herum, als Norma mit der Post eintrat. Draußen, vor dem graugerahmten Fenster,

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