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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und dass sie glaubte, die Geister mit dem ausgestreckten Finger ihrer Gedanken berühren zu können, wenn die heiligen Männer im Chor ihre Gebete sprachen und eingehüllt waren in den herben Geruch des Räucherwerks, der in bläulichen Wolken aufstieg. Sie schrieb ihm, sie sei in Einklang mit sich und der Welt, und erwähnte kein einziges Mal die Pravaz oder die Apotheke oder das fügsame Dienstmädchen, das auf ein Wort von ihr sein Leben für sie hingegeben hätte. Einzig seine Umarmung fehle ihr, schrieb sie. Das sei alles. Das würde ihr Leben vollkommen machen. Doch sie warte nicht mit angehaltenem Atem darauf. Und sie werde nicht zu ihm zurückkehren.
    Zwei Monate. Eine Lücke im Kalender. Die Minuten vergingen langsam, die Stunden noch langsamer.
    Ein Tag glich dem anderen, doch sie langweilte sich nie. Ihr Geist war erfüllt von der immerwährenden Ruhe und Gelassenheit der Heiligen, und sie lebte, als schwebte sie wie in einem Flugzeug oder Luftschiff über der Erde - oder nein, auf ihren eigenen weit ausgebreiteten Flügeln. Nur die Undurchdringlichkeit der Sprache bereitete ihr Schwierigkeiten, ihre Härte und Abruptheit, die so ganz anders war als das seidenweiche, spielerische Französisch. Und der Fisch, der ewige Fisch - trübe Augen, die sie täglich anstarrten, das bloßgelegte Fleisch wie eine offene Wunde, die Schwänze, die Lippen, die Flossen und Barteln. Und der Schlamm. Und der Regen.
    Zwei Monate. Sie brauchte eine Veränderung.
    Und daher setzte sie sich auf und war hellwach, als eines Abends nach ihrem Bad die leise zischenden Schritte des Dienstmädchens auf dem Holzboden des Vorraums zu hören waren, gefolgt von den schwereren Schritten eines Mannes. Und als die shoji mit einem sanften Klicken zur Seite glitt und er grinsend in der Türöffnung stand, war sie bereits aufgesprungen, lief bereits über die tatami zu ihm, und ihre Arme breiteten sich wie von selbst aus, um ihn an ihre Brust zu drücken. »Miriam«, sagte er, während das Mädchen wie der Schatten eines Vogels entschwand und sie in seine Arme sank, und ihr Blut wallte so heftig auf, dass sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ach, sein Geruch! Seine Lippen an ihrem Hals! »Frank«, rief sie. »Ach, Frank, Frank, Frank.«
    Fünf Tage waren sie dort zusammen. Sie zeigte ihm die Fußwege, die an der Hügelflanke entlangführten, den Tempel, die Geschäfte, die kleinen gelben Vögel und den komischen Mann im Tabakladen, der aus seinem kegelförmigen Hut ein exakt dreieckiges Stück herausgeschnitten hatte, damit er in den Himmel sehen konnte. In einem abgelegenen Laden, den nicht einmal die Kunsthändler in Tokio zu kennen schienen, entdeckte Frank eine Reihe von Farbholzschnitten und erstand nach ausgiebigem Feilschen über ein Dutzend seltener Exemplare, darunter auch mindestens eines, das er sogleich in den Pantheon seiner Favoriten erhob: Es handelte sich um einen sehr farbenfrohen, aus dem Jahr 1777 stammenden Shunshö, der den Schauspieler Ichikawa Danjurö V. in einer roten Robe darstellte. Als das Geld den Besitzer wechselte, wäre Frank am liebsten aufgesprungen, um jubilierend durch den Laden zu tanzen, doch sie hielt ihn davon ab, denn er musste vor dem Händler und seinen Kindern und allen anderen, die ihnen nachstarrten, als sie sich Arm in Arm und mit kleinen, hüpfenden Schritten entfernten, das Gesicht wahren.
    Sie badeten gemeinsam. Sie saßen gemeinsam in ihren kurzen Kimonos vor dem Haus und sahen zu, wie die Sonne hinter den Hügeln versank. Sie aßen und lachten und walkten den Futon auf den tatami durch, als wären sie Flitterwöchner und lägen in einem knarzenden Himmelbett in einem Gasthof in Wisconsin. Und als sie – gemeinsam - nach Tokio aufbrachen, gab er ihr ein herrliches Versprechen, schöner und wertvoller als alle Farbholzschnitte der Welt: Nach all den Jahren hatte Kitty endlich den Widerstand aufgegeben, und sie würden heiraten.
    So bald wie möglich.
    Drei Jahre später, als sie sich im Schatten eines Avocadobaums am Ende des Gartens von Leoras kleiner spanischen Villa in Santa Monica Luft zufächelte, wartete sie noch immer. Frank hatte Wort gehalten, sie konnte ihm keine Vorwürfe machen - oder vielmehr doch, denn er hatte alle nur denkbaren Verzögerungen und Ausflüchte benutzt, bis sie dachte, sie würde unverheiratet sterben wie irgendein trauriges, sitzengelassenes gefallenes Mädchen in einem Rührstück. Immerhin war er jetzt frei, das jedenfalls hatte er erreicht. Die Scheidung war

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