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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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auch sonstwo in Amerika hätte vorhersehen oder sich ausmalen können: der Bombardierung von Pearl Harbor durch mein Volk, und den Konsequenzen, die das für mich hatte, einen Japaner, der auf Basis eines Studentenvisums in der engen Welt der Hügel von Wisconsin lebte. Nichts hätte mich vor dieser heftigen Gegenreaktion bewahren können, selbst die Macht und der Einfluss von Wrieto-San persönlich halfen da nicht weiter. Auch im Rückblick sehe ich nicht, was irgendeiner von uns hätte anders machen können.
    In dem Jahr vor dem »Überraschungsangriff«, wie die Presse es nannte, war ich zur örtlichen Polizeiwache gegangen, um mich gemäß Abschnitt 31 des Alien Registration Act registrieren und mir die Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, doch damals hatte ich nicht groß darüber nachgedacht. Die Militaristen in meinem Land hatten einiges Säbelgerassel veranstaltet, genau wie ihre Gesinnungsgenossen in Deutschland und Italien, und es schien eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme seitens der amerikanischen Regierung, ein wachsames Auge auf Angehörige dieser kriegslüsternen Nationen zu haben, auch wenn noch kein Krieg erklärt worden war. Ich fand es durchaus beschämend, wie meine Landsleute sich produzierten (ganz zu schweigen allerdings von der brutalen und entmenschlichenden Weise, in der sie von der amerikanischen Presse dargestellt wurden, die natürlich alle Japaner, ungeachtet ihrer Gesinnung oder kulturellen Errungenschaften, in denselben Barbaren-Topf warfen), doch der Akt, mich zusammen mit rund einem Dutzend ortsansässigen Italienern und Deutschen registrieren zu lassen, hatte nichts Unangenehmes oder gar Traumatisierendes. Ja, an jenem Winternachmittag fast anderthalb Jahre später - am 7. Dezember, um genau zu sein - hatte ich ihn völlig vergessen.
    Ich weiß noch, dass ich kurz nach dem Läuten der Glocke ins Esszimmer kam und es menschenleer vorfand. Verwirrt steckte ich den Kopf durch die Küchentür. Auch hier war niemand, nicht einmal Mabel, die zum lebenden Inventar der Küche gehörte. Auf dem Herd, der noch heiß war, stand ein Kessel dampfender Suppe, und der Raum war warm, von Düften erfüllt. Frischer Kaffee war zubereitet. Neben einem aufgeschnittenen halben Schinken lagen mehrere Laibe Brot zum Auskühlen. Spüllappen, Gemüseschalen, Schöpfkellen, Messer und weitere über die Küche verteilte Kochutensilien ließen auf nicht lang zurückliegende Aktivitäten schließen.
    Aber keine Mabel. Und keine Spur von dem derzeit als Souschef und Tellerwäscher fungierenden Schüler oder von irgendeinem anderen meiner Kollegen, die sich um diese Zeit mit dem Teller in der Hand vor der Theke hätten drängen sollen. Ich trat ans Fenster, um in den Hof hinauszuspähen (das Ganze spielte sich in Hillside ab, wo inzwischen die meisten Schüler wohnten und arbeiteten) und mich zu vergewissern, ob in der Zeit, die ich gebraucht hatte, um vom Zeichenraum zum Haupthaus hinüberzugehen und die Pläne zu holen, nach denen Wrieto-San mich geschickt hatte, irgendeine Katastrophe geschehen war.
    Und jetzt hörte ich aus einem anderen Gebäudeteil die Klänge des Radios herüberwehen. Es war Herberts Radio, er hatte ein neues Zenith auf seinem Zimmer stehen, einen ausgesprochen starken Empfänger mit phantastischer Tonqualität und einer verlängerten Antenne, die er selbst angefertigt hatte, und wir versammelten uns oft abends bei ihm, um Radio zu hören, aber noch war es hellichter Tag - Mittagessenszeit -, und ich konnte mich nur wundern. Ich näherte mich den Klängen wie in Trance. Sie wurden lauter. Ich hörte aufgeregte Stimmen und ein lautes »Ruhe!«, als der Ansager dröhnend die Nachrichten verlas, und dann war ich da und blieb erstaunt in der Tür stehen: Herberts Zimmer war ein einziger Menschenauflauf - alle, auch Mabel, auch Wrieto-San, waren dort zusammengedrängt wie Pendler in der U-Bahn.
    Das Radio knackste bedrohlich. Jemand blickte zu mir auf - Wes. »Hast du es schon gehört?« fragte er, und jetzt schauten alle hoch - seine Stimme verriet keinerlei Ironie, kein Gespür für die Situation, es ging ihm einfach bloß um den Sachverhalt: Hast du es schon gehört?
    »Was gehört?« fragte ich. »Was ist denn los?«
    »Die Japaner haben Pearl Harbor bombardiert.«
    Wrieto-San war, wie vielen Lesern sicher bekannt ist, Pazifist. Während der Kriegsjahre riet er seinen Schülern, aus Gewissensgründen den Wehrdienst zu verweigern, und ich weiß, dass mindestens zwei von ihnen - John Howe und

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