Die Frauen
Augenblick über dem Gipfel des höchsten Berges verharrte und dann verschwand. Die trockene Gebirgskälte kroch in die Wände, das Dach und die widerspenstigen Fensterrahmen.
Bald würde es dunkel sein, und dann würde sie die ganze Nacht daliegen und morgen wieder den ganzen Tag. Und was war mit den Kindern? Sie mussten inzwischen von der Schule nach Hause gekommen sein - Julias Teddy und Joe und ihr eigener Sohn -, aber die Dienstmädchen würden sich schon um sie kümmern, besonders um Julias Jungen. Und um ihren Mann. Mamah wurde bewusst, dass sie mit Julias Mann allein im Haus war, einem Mann, den sie nie besonders gemocht hatte, einem Mann wie Edwin, wortkarg und verschlossen, als würde er durch Denken, Empfinden und die Erkundung der Seele irgendeinen männlichen Schwur brechen, als wäre Gefühllosigkeit der Schlüssel zum Leben. Nun, sie war nicht gefühllos. Sie war lebendig. Und sie war hierhergefahren, um einem Mann zu entkommen, der nicht mehr Empfindung besaß als ein Stein, und um mit Julia, ihrer besten Freundin, zusammenzusein, einer anmutigen, lebhaften Frau in der Blüte ihrer Jahre, deren letzte Schwangerschaft so anstrengend gewesen war und die einen Menschen brauchte, mit dem sie zusammensein, lachen und empfinden konnte, und war es denn ein Wunder, dass sie sich in den vergangenen Monaten zum erstenmal seit Jahren zu Hause, wirklich zu Hause gefühlt hatte?
Und nun war Julia tot, und sie war eine Fremde im Haus eines anderen Mannes.
Dieser Gedanke ließ sie abrupt hochfahren. Die Krisis war da. Sie musste in Bewegung kommen, handeln, nach den Kindern sehen. Und ihren Koffer, sie musste den Koffer packen, denn hier würde sie keinen Augenblick länger bleiben. Und Frank. Sie musste Frank ein Telegramm schicken. Bei dem Gedanken an das, was sie ihm schreiben würde - wie sollte sie ihm auch nur annähernd schildern, was sie empfand, den Schock, den die Worte der Krankenschwester ausgelöst hatten, Julias Blut, das nicht gestillt werden konnte und das in einem breiten Fluss jedes Laken, jedes Tuch, jedes Kleidungsstück tränkte, bis sie aussahen wie Reliquien irgendwelcher Heiliger, das totgeborene Kind, das zusammengekrümmt und grau wie ein Stück Wachs an der Schulter seiner toten Mutter lag, die Nacht, die sie verbracht hatte, die Angst und den Schmerz und die Wut-, bei dem Gedanken daran spürte sie die Trauer in sich aufsteigen, bis sich alles grau färbte und die Berge vor den Fenstern im Nichts verschwanden.
Aber sie würde nicht weinen. Nein, das würde sie nicht. Dafür war keine Zeit.
Zunächst musste sie sich umziehen - sie trug noch immer das Kleid von gestern - und etwas essen. Allerdings wollte sie nicht nach einem der Dienstmädchen läuten. Dieser Gedanke lähmte sie. Wenn sie läutete, würde ihnen einfallen, dass sie noch da war, sie würden kommen, ins Zimmer treten, sie anstarren und sprechen und nicken und ihr unmögliche Fragen stellen - ob sie Suppe wolle, ein Sandwich, Butter, Marmelade -, und das konnte sie nicht zulassen. Und auf keinen Fall wollte sie hinuntergehen in das Esszimmer oder die Küche, wo sie ihm, dem Personal, den mittlerweile gewiss eingetroffenen Verwandten oder sonst jemandem begegnen würde - und in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie auch ihre Kinder nicht sehen wollte. Bei dem Gedanken an John und Martha mit ihrer Vielzahl von Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten und der Erkenntnis, dass es an ihr war, die Andeutungen der Dienstmädchen zu beschönigen, die den beiden gesagt hatten, Teddy und Joe sei alles Spielen streng untersagt und ihre eigene Mutter fühle sich nicht wohl und dürfe unter keinen Umständen gestört werden, fühlte sie sich abermals wie gelähmt. Sie stellte sich lebhaft vor, wie sie aus dem Fenster stieg, am nächsten Baum hinunterkletterte, sich zur Straße schlich, zum Bahnhof ging und einen Zug nahm, der sie fortbrachte ... Wohin?
Zu Frank. Dorthin brachte sie der Zug. Zu Frank.
Sie knöpfte das Kleid auf, zog es über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Dann ging sie ins Badezimmer und ließ die Wanne ein. Die Kacheln unter ihren Füßen waren kalt. Sie roch ihren eigenen Geruch, den getrockneten Schweiß unter den Achseln und zwischen den Beinen, den Geruch von Angst und Ungewissheit. Als sie nach dem Wasserhahn griff, sah sie, dass ihre Hand zitterte, und versuchte, sie so distanziert zu betrachten, als wäre es die Hand einer anderen, doch das gelang ihr nicht. Sie musste sich fragen, warum
Weitere Kostenlose Bücher