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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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ihre Hand zitterte. Wegen Julia? Weil das Leben sie verlassen hatte und der Schock so gewaltig war, dass sie selbst es kaum ertragen konnte, am Leben zu bleiben? Weil sie nicht hierbleiben und nicht zu Edwin zurückkehren konnte? Oder war es etwas anderes, etwas, das sie nicht benennen konnte, der dunkle Höhepunkt ihres Lebens, der sich entfalten wollte? Sie stellte das Wasser ab und richtete sich auf. Was dachte sie sich nur? Sie hatte keine Zeit für ein Bad. Ein Bad zu nehmen war verrückt, lachhaft. Der lächerliche Einfall einer Frau, die sich nicht entscheiden konnte. Sie zog die Unterwäsche aus, wusch sich rasch mit dem Schwamm und wagte dabei nicht, in den Spiegel zu blicken, aus Angst, dort eine andere Frau zu sehen, eine Frau, die die Kinder trösten und die Beerdigung abwarten würde, die bei ihren Gefühlen verweilte wie bei den Perlen eines Rosenkranzes und sich anderen widmete. Die Blumen bestellte. Ihr Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verbarg. Eine solche Frau. Als sie sich anzog und ihre Kleider in den Koffer legte, entwarf sie in Gedanken das Telegramm an Edwin und den Brief, der folgen würde. Julia ist tot, Edwin. Nein. Es hat eine schreckliche Tragödie gegeben. Julia ist bei der Entbindung gestorben. Ich kann keine Minute länger in diesem Haus bleiben. Es ist zu schmerzhaft. Komm mit dem nächsten Zug und hole die Kinder. Deine Frau.
    Als der Koffer gepackt war, setzte sie den Hut auf, zog den Mantel an, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte den Flur hinauf und hinunter. Julias Mann hatte sein Vermögen mit Silber verdient - er hatte irgendwo in diesem labyrinthischen Gebirge eine Bergbaugesellschaft betrieben* -, und das Haus war Zeugnis seines Wunschesnach gesellschaftlichem Aufstieg: ein weitläufiges, geschmacklos eingerichtetes Anwesen im Queen-Anne-Stil mit zwanzig Schlafzimmern und einem Gewirr dunkler Flure. Es war das Gegenteil dessen, was Frank beim Bau ihres eigenen Hauses gelungen war, und sie hatte es immer gehasst. Bis jetzt. Jetzt war es geradezu ideal: Wandlampen warfen ein trübes Licht, Treppen führten ins Nichts, und in den Fluren hatte man das Gefühl, unter der Erde zu sein, als hätte der Architekt versucht, den Eindruck zu erzeugen, man befinde sich in einem Minenstollen. Es war niemand zu sehen. Alles war ruhig.
     
    * Nennen wir sie Roaring ForkMines und nehmen wir an, dass er sie vor dem Kollaps des Silbermarktes im Jahr 1893 verkauft oder sein Anlagevermögen diversifiziert hatte.
     
    Das Zimmer der Kinder war in der ersten Etage, genau unter dem ihren. Um diese Uhrzeit hatten sie gewiss bereits zu Abend gegessen, und an jedem anderen Tag hätten sie jetzt im Wohnzimmer vor dem Kamin gesessen und gespielt, gelesen oder gemalt, doch da der Haushalt sich in Trauer befand, waren sie vermutlich in ihrem Zimmer. Es wurde dunkel, und John war ohnehin nicht so erpicht darauf, sich draußen herumzutreiben. Martha war zu klein, um unbeaufsichtigt zu sein, darum hatte sie Lucy mitgenommen. Lucy würde bei den Kindern sein. Martha lag bestimmt schon im Bett, und Lucy las ihr ein Märchen vor, während John an dem kleinen Tisch vor dem dunklen Fenster saß, malte und tat, als würde er nicht zuhören. Dieser Gedanke beruhigte sie, als sie die Treppe hinunterschlich. Sie achtete auf das kleinste Geräusch - es wurde geflüstert, irgendwo schlug eine Tür - und ging zum Kinderzimmer.
    Bis dahin hatte sie sich gezwungen, weiterzugehen und es nicht gewagt, über den Augenblick und die fixe Idee, die von ihr Besitz ergriffen hatte, hinauszudenken, doch jetzt, als ihre Hand auf dem Türknopf lag, zögerte sie. Einen langen Moment stand sie da und lauschte, bis sie Lucys Stimme hörte, ein sanft moduliertes Gemurmel: Sie las eine Geschichte vor. Eine Pause, dann Marthas Stimme, die piepsend eine Frage stellte. Mamah stellte sich ihre Tochter vor, noch keine vier Jahre alt und auf der anderen Seite der Tür, kaum fünf Sekunden entfernt, das kleine Gesicht angespannt vor Konzentration - Warum?, wollte sie immer wissen. Warum wohnen sie in einem Schuh? Warum haben die Tauben das gemacht? -, und beinahe hätte sie ihren Plan aufgegeben. Als Mutter war sie eine Schande, sie war herzlos, eine Versagerin, schlimmer als jede böse Stiefmutter in den Märchen der Brüder Grimm. Sie ging fort.
    Sie ließ ihre eigenen Kinder im Stich. Sie ließ sie hier, in diesem vom Tod heimgesuchten Haus, in der Obhut eines irischen Kindermädchens, das selbst fast noch ein Kind war.
    Ganz

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