Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
bringen würde, und sobald sie auf deutschem Boden waren, würden sie einen Zug nach Berlin nehmen, wo er sich mit Herrn Wasmuth treffen würde, um die Veröffentlichung seines Portfolios vorzubereiten, das seinen Ruhm in ganz Europa verbreiten würde. Darüber hatten sie immer wieder gesprochen: Berlin. Und da war es, genau vor ihnen.
    Sie hielt dieses Bild fest, wich den Unebenheiten der Straße aus und trat aus den Lichtkegeln der Straßenlaternen in die Schatten, während der Wind aus den Bergen an ihrem Mantelkragen zupfte: sie beide, die gemeinsam all diesen ... Komplikationen den Rücken kehrten. Sofern er es wollte. Sofern er genug Mut besaß. Sofern er sie liebte, wie er es gesagt hatte. Einen Augenblick lang hatte sie Angst: Sie setzte alles aufs Spiel, sie setzte sich allen möglichen Verurteilungen und Bloßstellungen aus - und was, wenn er zurückschreckte? Was, wenn er nicht aufstand und tat, was er tun musste? Was, wenn er das Geld nicht aufbringen konnte? Was, wenn Kitty ihn stärker im Griff hatte, als sie, Mamah, angenommen hatte? Aber nein, nein, nichts davon spielte jetzt eine Rolle. Und falls doch, dann war es jetzt zu spät. Sie eilte die Straße entlang und kam sich vor, als wäre sie auf der Flucht.
    Sie ging ins Telegrafenbüro, um Edwin wegen der Kinder zu telegrafieren, und zwang sich, kalt und präzise zu sein und nur an das zu denken, was zu erledigen war. Dann telegrafierte sie Frank. Sie schrieb, sie sei unterwegs. Alles, was sie sich in ihren Briefen ausgemalt hätten, werde jetzt Wirklichkeit. Sie gehöre ihm. Und die Zeit sei gekommen, da er beweisen müsse, dass er seinerseits ihr gehöre. Dann fand sie jemanden, der sie nach Denver fuhr, und dort kaufte sie eine einfache Fahrkarte nach New York über Omaha, Burlington, Chicago, Elkhart, Cleveland, Buffalo und Albany, setzte sich auf eine Bank und wartete.
    Es war kurz nach neun, und der Bahnhof war beinahe menschenleer. Sie blickte auf das Mondgesicht der Uhr und sah zu, wie der Sekundenzeiger sich Schritt für Schritt weiterbewegte, so langsam, als wollte er bei jedem Strich für immer verharren, im Gegensatz zu ihren Gedanken, die weit schneller vorauseilten und sich in stets weiteren Spiralen von einem Thema zum anderen ausdehnten, während ihr Magen sich zu einem runzligen Knoten aus Angst und Aufregung zusammenzog. Und aus Hunger. Weil sie nichts gegessen hatte. Weil sie nichts essen konnte. Weil sie weder Lust noch Zeit zum Essen gehabt hatte. Die Sekunden krochen dahin. Am Fahrkartenschalter stand eine Frau und hielt die Hand eines kleinen Mädchens in Marthas Alter. Mamah gegenüber saßen zwei Männer in beinahe identischen, billigen grauen Anzügen, die Hüte in den Schoß gelegt, auf einer Bank mit einer hohen Lehne und musterten sie heimlich. Der eine streichelte geistesabwesend die Krone seines Hutes, als wäre sie eine Katze. Wer war er? Ein Pinkerton-Detektiv? Ein Saatgutvertreter? Ein Mann, der im Begriff war, seine Frau zu verlassen?
    Wenn man dem Fahrplan glauben konnte, würde der Zug erst in eineinhalb Stunden kommen, und sie fand keine Ruhe, war nicht imstande, dem Rasen ihrer Gedanken und dem Hämmern ihres Herzens Einhalt zu gebieten. Sie würde sich erst entspannen oder auch nur klar denken können, wenn der Gepäckträger sie zu ihrem Abteil führte und sie sich einschließen konnte. Sie sah an den beiden Männern vorbei zu den Türen, die zur Straße führten, und erwartete halb, dass im nächsten Augenblick Lucy hereingestürzt kommen würde, an jeder Hand ein Kind, und alle drei würden sie, in Tränen aufgelöst, beschwören zu bleiben. Oder Julias Mann. Oder der Sheriff. Verstieß sie denn nicht gegen irgendein Gesetz? Wahrscheinlich schon.
    Um irgend etwas zu tun und sich abzulenken, erhob sie sich schließlich von der Bank, auf der sie, wie ihr schien, ihr ganzes Leben verbracht hatte, obgleich es, stellte sie verzagt fest, nicht mehr als fünf Minuten gewesen waren, und beschloss, in das Restaurant zu gehen. Sie spürte, dass die Blicke der Männer sie verfolgten, als sie durch die weite, mit Marmorplatten ausgelegte Halle ging, und jeder Schritt klang in ihren Ohren wie ein Pistolenschuss oder wie ein Schrei nach Trost. Dann stieß sie die Tür auf und trat in das Restaurant. Es war ein großer, höhlenartiger, spärlich beleuchteter Saal. Anfangs konnte sie kaum etwas erkennen, doch dann erschien ein Kellner aus dem Dunkel und führte sie zu einem Tisch an der Wand. An den anderen Tischen saßen

Weitere Kostenlose Bücher