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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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vorsichtig stellte sie den Koffer an die Wand, so dass er von der Tür aus nicht zu sehen war. Lucys Stimme fuhr fort, warm und volltönend, das angenehmste Geräusch der Welt, der Klang von Sicherheit und Geborgenheit, der Klang von Mütterlichkeit - Mütterlichkeit -, und was war nur mit ihr los? Warum konnte sie nicht die Tür aufstoßen und ihren Platz bei den Kindern einnehmen? Weil sie Edwin nicht liebte, darum. Weil sie ihn kurz vor dem Abgrund, den ihr dreißigster Geburtstag bedeutet hatte, geheiratet hatte, im selben Jahr, in dem ihre beiden Eltern gestorben waren. Er war wieder in ihr Leben getreten, und sie hatte gedacht, sie könnte sich in der Banalität des Gewöhnlichen vergraben, ohne dass ihr etwas fehlte. Doch Ellen Key wusste, was ihr fehlte. Ellen Key, deren Werke sie auswendig kannte, denn Ellen Key war das Licht der Wahrheit, die Befreierin, die Verkünderin der Weisheit, und sie, Mamah, übersetzte ihre Bücher ins Englische, damit alle Frauen in Amerika sie lesen und ihre eigene Befreiung erreichen konnten. Niemand sollte in einem Puppenhaus leben, niemand.
    Und wenn eine Frau Mutter wird, ohne die ganze Größe der Liebe erfahren zu haben, so empfindet sie dieses Ereignis als Herabsetzung; denn weder ein Kind noch eine Ehe oder eine Liebe werden ihr genug sein - nur eine große Liebe kann sie zufriedenstellen. Und wo war diese große Liebe? Wo war ihr Seelenverwandter? In Oak Park. Wo er auf sie wartete.
    John sagte etwas, seine Stimme verwob sich mit der von Lucy und machte aus dem Märchen ein Lied, den Kinderreim, für den er eigentlich schon zu alt war, und sein Ton war spöttisch und ungeduldig, obwohl er zuhörte, noch immer zuhörte, den Buntstift reglos in der Hand. Und Martha sagte auch etwas - Warum? -, doch die Tür war dick, solides Aufsteigermahagoni, und so konnte Mamah die Antwort nicht verstehen. Nur ein Gemurmel. Schuldbewusst zog sie die Hand zurück und musterte in dem trüben, unterirdischen Licht die blasse Haut und die Linien der Handfläche. Sie zitterte nicht. Nicht mehr. Ihre Hand war so ruhig und entschlossen wie die eines Mörders, eines Holzfällers, der seine Axt über den Bauch des Wolfs erhebt, oder die der Hexe, die soeben den Ofen geschürt hat, und sie langte zum Koffergriff, während Mamah in der neuen Sprache, der Sprache des Heldenmuts, des Opfermuts, ihre Abschiedsworte flüsterte und davonschlich.
    Der Himmel hatte sich noch nicht ganz verdunkelt - er war eine von innen heraus leuchtende Kobalttinktur, die im Osten in Schwarz überging, ein Westernhimmel, durchsetzt mit den glitzernden Löchern der Sterne -, doch die Erde lag in tiefen Schatten. Niemand hatte sie auf dem Weg zur Hintertür gesehen, doch jedesmal, wenn sie Schritte oder die Stimme eines Dienstboten gehört hatte, war sie stehengeblieben und erstarrt. Sie wollte keine Erklärungen erfinden müssen - über Erklärungen war sie hinaus -, und der Koffer hätte sie ohnehin verraten. Kurz vor der Hintertür hatte sie gedacht, alles sei verloren, denn die Haushälterin war mit einem Tablett voller Sandwiches und Teegeschirr für den Ehemann und die im Salon versammelten Trauergäste aus der Küche getreten, doch Mamah hatte sich hinter einer der wuchtigen Anrichten versteckt, bis die bereits in Schwarz gekleidete Frau, die sich ohnehin nur auf das Tablett konzentrierte, verschwunden war.
    Dann ging sie rasch zur Tür und hinaus in die Nacht. In der Auffahrt standen ein Automobil und zwei Kutschen. Mamah schlug einen weiten Bogen, obwohl es gleichgültig gewesen wäre, wenn einer der Fahrer sie gesehen hätte. Für die war sie ein Niemand, irgendeine Frau mit einem Koffer, die ihren besten Mantel trug und das Gesicht unter der Hutkrempe verbarg. Sie ging die Auffahrt entlang zur Straße. Ihr Plan, den sie jetzt erst entwarf, als sie den Koffer von einer Hand in die andere nahm, war, zum Hotel zu gehen und nachzusehen, ob es dort einen Wagen gab, der sie nach Denver bringen konnte. Dort würde sie in einen Zug nach Osten steigen, nach Chicago - und dort wiederum würde Frank sie auf dem Bahnsteig erwarten und in die Arme schließen. Auch er würde einen Koffer dabeihaben, und er würde mit den anderen Passagieren in den Zug steigen und gemeinsam mit ihr durch die Hügel und Stoppelfelder von Indiana und Ohio und New York fahren, am Hudson entlang bis nach Manhattan. Sie würden ein Schiff finden, einen großen, hoch über den Piers an der Lower West Side aufragenden Dampfer, der sie nach Bremen

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