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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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einige Gäste, hauptsächlich Männer, tranken und kauten Sandwiches und Koteletts, und an dem mit Tellern und Soßenflaschen vollgestellten Nachbartisch grinste sich ein in schreienden Farben gekleidetes Pärchen mittleren Alters an. Alles sah auf, als sie eintrat und ihren Koffer abstellte, und das Drama dieses Augenblicks erfüllte sie mit Scham und Erregung zugleich. Sie war es nicht gewöhnt, allein in der Öffentlichkeit zu sein. Stets waren Edwin und seine Aura von Wohlanständigkeit dagewesen, die Kinder hatten sie abgeschirmt, oder Frank war auf und ab stolziert, als gehörte ihm jeder Quadratzentimeter eines jeden Raums, den er betrat. Jetzt aber war sie allein.
    Sie hatte eigentlich nur eine Tasse Tee und ein Brötchen bestellen wollen, doch sobald sie sich gesetzt und einen Blick auf die Speisekarte geworfen hatte, merkte sie, wie hungrig sie war. Der Ober brachte einen Teller mit Oliven und Selleriestangen sowie einen Korb mit Brot und Butter. Sie aß alles auf, ohne nachzudenken, und bestellte dann ein Steak, halb durchgebraten, dazu Bratkartoffeln, gemischtes Gemüse und einen grünen Salat mit Roquefort-Dressing. Etwas zu trinken? Ein Bier vielleicht? Ein Glas Wein?
    Der Kellner - ein Mann mittleren Alters mit einem Bauch, der gegen die Knöpfe seines Jacketts drückte, und einer Frisur, die aussah, als hätte er sich das Haar im Dunkeln schneiden lassen - stand neben ihr. Er trug einen abgenutzten, leicht speckigen Anzug, der wirkte, als hätte er ihn von einem Beerdigungsunternehmer ausgeliehen, und bedachte sie mit einem wissenden, ja unverschämten Blick, als wüsste er alles über sie, als tauchten hier jeden Abend verheiratete Frauen auf, die ihre Kinder im Stich ließen, um mit ihren Liebhabern durchzubrennen, eine nach der anderen, und als würden sie alle trinken, um ihre Gedanken und Schuldgefühle zum Schweigen zu bringen, die sie niederdrückten wie eine Bleiweste. Sie sah ihm unverwandt in die Augen - nein, sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Der Mann war ein Bauerntölpel, ein Lakai, sie hatte ihn noch nie gesehen und würde ihn nie mehr zu sehen bekommen. »Wein«, sagte sie. »Eine Flasche Moselwein.«
    Auf ihrer ersten Europareise, ihrer Hochzeitsreise, als Edwin und sie durch Deutschland gefahren waren, hatte sie Wein schätzengelernt, und obwohl sie keine Kennerin war, kannte sie sich immerhin soweit aus, dass sie sich auf die ihr vertrauten deutschen Weine verließ. Und dieser hier, so kühl und reinigend wie ein sprudelnder Bergquell, entfaltete sogleich seine Wirkung. Er löste die Verspannung in den Schultern und wärmte sie, wo es am kältesten war: in ihrem Herzen. Sie war eine Frau, die allein in der Öffentlichkeit trank - na und? Sie war unabhängig, oder etwa nicht? Hätte Ellen Key deswegen Gewissensbisse gehabt? Oder irgendeine andere europäische Frau? Sie trank Wein zum Essen, sie war befreit von den Sorgen, den Schuldgefühlen, der Panik, die sie zuvor ergriffen hatte, und sie aß das Fleisch und trank den Wein und schlug nicht ein einziges Mal die Augen nieder. Sollten sie sie doch anstarren. Sollten sie nur genau hinsehen. Denn bald würde sie im Zug sitzen und durch die Nacht fahren, und dies alles würde hinter ihr liegen.
    Als der Zug in den Bahnhof von Chicago einfuhr, erwartete Frank sie auf dem Bahnsteig. Trotz aller Vorsätze, trotz des Weins und des sanften Schwankens des Waggons und der durch und durch positiven und liebevollen Gedanken, die heraufzubeschwören sie sich mühte, hatte sie eine schlaflose Nacht und einen unruhigen Tag verbracht, geplagt von tausend Nadelstichen des Gewissens und der Ungewissheit, und als sie ihn sah, stark und strahlend, wie ein Fels in der Brandung, überkam sie Erleichterung. Jetzt würden sie zusammensein, und heute nacht würde sie tief und fest schlafen, ihren Körper an seinen gepresst, so dass jede Zelle, jede Pore ihn aufnehmen konnte, von Kopf bis Fuß ... Die Bremsen quietschten. Der Bahnhof schwankte und kam zur Ruhe. Sie fing Franks Blick ein, und er schenkte ihr das Grinsen des Welteroberers und kam über den Bahnsteig auf sie zu. Sie war überwältigt vom Tumult ihrer Gefühle, und so dauerte es einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass seine Hände leer waren.Er schloss sie nicht in die Arme - man konnte schließlich nicht wissen, wer sie beobachtete, das verstand sie -, doch er war so steif und formell, dass sie beinahe die Fassung verlor. »Mamah«, sagte er nur, und dann spürte sie seine Hand am

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