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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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sein, dass er so kleinlich, so rachsüchtig war? Selbst Kitty, die arme langweilige Kitty, musste inzwischen die Wahrheit kennen. Und obwohl Frank in der Nacht zuvor bei ihr gewesen war, mussten sie natürlich getrennt an Bord gehen, ja sogar mit zwei Taxis zum Hafen fahren, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Den ganzen Morgen war sie in einer schrecklichen Verfassung - jeder, den sie sah, war ein potentieller Spitzel: der Mann am Empfang, der Portier, der ihr die Tür des Taxis aufhielt, ja sogar der Taxifahrer -, und sie fühlte sich, als wäre sie nackt, als sie auf dem Pier stand und darauf wartete, dass ihr Gepäck an Bord gebracht wurde und sie über die Gangway gehen und in der Menge verschwinden konnte. Bis dahin, bis zu dem Augenblick, da sie spürte, wie das Schiff sich majestätisch hob und senkte, war sie ständig darauf gefasst, jemanden rufen zu hören: Da ist sie! Die Rabenmutter! Die Ehebrecherin!
    Haltet sie!
    Frank hatte die Kabine geschmückt: Blumen überall, Keramiken, in den Ecken kunstvolle Arrangements einer Auswahl seiner japanischen Holzschnitte. Sie sah, wie das Sonnenlicht durch die Bullaugen fiel wie in ein privates Universum, der Duft der Blumen schärfte ihre Empfindungen, die Geishas in ihren prachtvollen Kimonos lächelten ihr aus der Umgrenzung der Rahmen wohlwollend zu, und der entfernte, schneebedeckte Fuji* verlieh dem Glücksdelirium, das sie überkam, eine Aura von Beständigkeit. »Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten«, sagte Frank, und sein Lächeln wurde breiter. Bevor sie einen Gedanken fassen konnte, nahm er ihren Arm und wirbelte sie zu den Klängen eines unsichtbaren Orchesters im Raum herum, wobei er ihr ins Ohr summte. Dann führte er ihr die Ausstattung vor, als hätte er sie selbst entworfen, drängte sie, als sie ihre Sachen in den Schränken verstaute, zur Eile und bestand darauf, einen Spaziergang an Deck zu unternehmen, während das Signal ertönte, das Schiff vom Pier ablegte und die Möwen in der frischen Brise über dem Fluss kreisten. »Und dann wollen wir essen«, rief er. »Ein Festmahl, denn wir haben etwas zu feiern. Du sollst bestellen, was dein Herz begehrt. Heute ist der erste Tag von allen, die noch folgen werden, der erste Tag der Freiheit, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Ist das nicht großartig?«
     
    * Aus der Serie Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji von Katsushika Hokusai (1760-1849). Wrieto-San besaß mindestens einen Erstdruck: Der Fuji, vom Hongan-ji-Tempel in Asakusa, Edo, aus gesehen.
     
    Auch sie spürte es. Sie dachte an Goethe, an die Übersetzung, die sie in der Einsamkeit des Hotelzimmers für Frank angefertigt hatte, während die Stunden quälend langsam zu Staub zerfielen. »>Nenn’s Glück!«« zitierte sie und lag in seinem Arm. »>Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles!««
    Und so war es, bis Frank am zweiten Tag die Farbe von Leberwurst annahm und außerstande war, das Bett zu verlassen. »Aus mir wird nie ein Pirat werden«, sagte er mit schwacher, erstickter Stimme. Sie sah, wie er sich benommen über eine emaillierte Schüssel beugte und sich übergab, sie sah ihn gekrümmt zur Toilette wanken, sah ihn schlafen und sich die Decke über den Kopf ziehen, als könnte er sich so vor dem Wogen der schweren See verbergen, das sie während der ganzen zweiwöchigen Überfahrt begleitete. Sie saß die ganze Zeit bei ihm, pflegte ihn, las ihm vor und übte deutsche Sätze mit ihm ein: Ich spreche ein wenig Deutsch; Einen Tisch für zwei, bitte; Moment! Es fehlt ein Handkoffer! Er war wie ein kleines Kind, wie John, wenn er die Grippe hatte, wie Martha. Er konnte nur Brühe bei sich behalten, und obwohl er sich, elend, wie er war, in die Decken wickelte, war ihm ständig kalt. Er klagte unablässig. Edwin - dieser Stein, dieser Holzklotz - war im Vergleich zu ihm der reinste Admiral. Doch nichts davon spielte eine Rolle, denn Gefühl war alles, und Frank war ein Quell von Gefühlen, ein Depot voller Gefühle. Sie las ihm vor, bis ihre Zunge sich taub anfühlte, sie legte ihm kühle Umschläge auf die Stirn und massierte seine Schultern und die verkrampften Wadenmuskeln. Er fühlte sich elend, doch sie war stark und wurde mit jedem Tag stärker.
    In Bremen angekommen, erholte er sich. Bei einer einzigen Mahlzeit aß er so viel - Knödel, Spätzle, Sauerbraten, Schmierkäse, eingelegtes Gemüse, Sauerkraut und dicke, mit Butter bestrichene Pumpernickelscheiben -, dass sie dachte, er würde

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