Die Frauen
wirklich, es war klarer und luzider als alles, was sie bisher aus den Schriften von Ellen Key hatte destillieren können, deren Sprache die Tendenz hatte, in einem schwedischen Sumpf aus falsch verwendeten Umstandswörtern und Parenthesen zu versinken. Sie war ganz vertieft in die Arbeit und formulierte eine scharfsinnige Weiterentwicklung von Ellen Keys Gedanken über die Evolution der Liebe und die Tatsache, dass Männer Frauen oft begehrten, ohne sie wirklich zu kennen, während von Frauen nur zu oft erwartet wurde, ein sexuelles Verlangen erst in der Ehe zu entwickeln, und sie dachte an Frank, an Frank und sie, und dass sie es gewesen war, die sich als erste offenbart hatte, an einem verregneten Herbsttag, als John in der Schule und Edwin im Büro gewesen war - sie hatte nur ihren Morgenmantel angehabt und nichts darunter -, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass noch jemand anders im Raum war.
Es roch stechend - Salzsäure? Benzin? -, und als sie sich umwandte, sah sie Carleton, der sich mit einem Eimer und einer Bürste über den Kamin beugte. Er trug ein blaues Arbeitshemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine für diese Hitze viel zu dicke Hose, und er kehrte ihr den Rücken zu. Sie sah, wie er sich auf ein Knie niederließ und mit der Bürste rhythmisch die Oberfläche der Steine bearbeitete, auf denen Rußstreifen wie lange Finger beinahe bis zur Decke reichten. Aber war es klug, dazu eine brennbare Flüssigkeit zu verwenden? Selbst wenn sie bis zum Herbst, wenn der Kamin wieder benutzt werden würde, verdunstet war? Sie wollte etwas sagen, ihn hindern, tat es aber nicht. Sollte er ruhig die Initiative ergreifen. Mrs. Swenson, der vorigen Haushälterin, wäre es sicher nicht im Traum eingefallen, den Kamin - oder irgend etwas anderes - zu reinigen, oder jedenfalls nur nach energischer Aufforderung und in langen Abständen. Am Abend zuvor hatte Diana sie beiseite genommen, als man sich verabschiedete, und ihr gesagt, was für ein Glückspilz sie sei. »Diese Neger, die du da hast, sind einfach zu gut, um wahr zu sein. Ich bin richtig neidisch. Wenn ich Alvin dazu bringen könnte, seine Brieftasche aufzumachen, würde ich sie dir sofort abwerben.«
Für einen langen Augenblick saß sie einfach da und sah ihm zu. Die Bewegungen des Negers hatten etwas Faszinierendes, sie waren so geschmeidig und athletisch, und es sah, wie sie jetzt merkte, gar nicht so sehr aus, als würde er tanzen, sondern vielmehr, als würde er dirigieren, als wären die Bürste sein Taktstock und die Steine des Kamins sein Orchester. Doch das war ein dummer Gedanke - die Steine ein Orchester. Was dachte sie sich nur? Schließlich hatte sie zu arbeiten. Sie wandte sich wieder dem Satz zu, den sie soeben geschrieben hatte (Für viele, zu viele Männer geht die sexuelle Attraktion jeglichem Gefühl von Liebe voraus, und dies führt oft zu ...), doch das rhythmische Zischen der Bürste lenkte sie ab, und sie blickte aus dem Fenster. Er war wirklich ein guter Arbeiter, dachte sie und wandte abermals den Kopf. Sie sah, wie seine Schultern sich hoben und senkten, wie die Bürste gleich der Taschenuhr eines Hypnotiseurs hin und her schwang, und kam zu dem Schluss, dass sie am ersten Tag zu streng gewesen war, zu kritisch, dass sie zu schnell Anstoß genommen hatte ...
Doch dann sah sie vor ihrem geistigen Auge die Wut in seinem Gesicht und wie er seine Frau angefahren hatte und dachte daran, wie falsch das gewesen war, wie unerträglich, wie primitiv.
Sein Horizont musste erweitert werden, das war alles. Es gab gewisse kulturelle Unterschiede, das konnte man auch in Japan, ja sogar in Deutschland beobachten, doch wenn man nachbohrte, merkte man, dass die Haltung überall dieselbe war.
Männlich. Archaisch. Barbarisch. Plötzlich spürte sie, wie ihr Herz sich ihm öffnete: Sie konnte ihm helfen, ja, wirklich, und nicht nur ihm, sondern auch Gertrude. Ihr Blick fiel auf den niedrigen Tisch, der vor ihr stand, und dort lag, zwischen anderen Büchern und Notizzetteln, ein noch verpacktes Belegexemplar von Ellen Keys Frauen Bewegung.* Einem Impuls gehorchend nahm sie es in die Hand und stand auf. Er war ein intelligenter Mann, dessen war sie sicher, ein Mann, der das Geschenk des Wissens gern entgegennehmen und ihr tausendmal danken würde, weil er nun zum erstenmal die andere Seite, nämlich die der Frau, sehen und erkennen würde - wie seine Frau sich fühlte und wie sie sich fühlen sollte.
* Übersetzt von Mamah Bouton Borthwick, A. M.,
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