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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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mit einer Einführung von Havelock Ellis. New York, G. P. Putnam ’s Sons, 1912.
     
    Das einzige Problem war, dass sie nicht wusste, wie sie ihn unter diesen Umständen ansprechen sollte - »Julian« war zu vertraulich und »Carleton« zu formell. Sie sah, wie seine Schultermuskeln sich beim Klang ihrer Schritte anspannten und er ganz kurz innehielt, bevor seine Arme wieder hin und her fuhren, und dann stand sie bei ihm, und die Benzindämpfe stiegen ihr in die Nase. Sie räusperte sich. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »Mr. Carleton. Julian.«
    Als er seinen Namen hörte, wandte er langsam den Kopf. Das Haar war so kurz geschnitten, dass es in dunklen Kringeln an der Kopfhaut klebte wie eine Wucherung, die sich über seinen Schädel ausbreitete. Er blieb jedoch in der Hocke, ein Knie gegen die Mauersteine gestützt. Die Bürste verharrte reglos. Und nun kamen seine Augen ins Spiel, dunkle Augen, so dunkel, dass sie die Iris kaum von der Pupille unterscheiden konnte. Er sah zu ihr auf, die Augen waren so unbewegt wie sein Gesicht.
    Sie hielt das Buch, als wäre es ein Missal, und strich mit den Fingern über das Einschlagpapier. »Ich wollte Ihnen nur sagen«, begann sie, »dass Sie und Ihre Frau hervorragende Arbeit leisten. Ich bin sehr zufrieden. Wirklich sehr zufrieden. Und das werde ich auch Mr. Wright sagen.« Sie hielt inne. Seine Augen waren tot, seine Lippen fest zusammengepresst. »Ich bin sicher, auch er wird ... nun, auch er wird sehr zufrieden sein. Ich bin mir ganz sicher.«
    Die Situtation war peinlich und wurde dadurch noch peinlicher, dass er vor ihr kniete wie in einer Geste der Unterwerfung, als wäre er ein Sklave im alten Süden - er ein Nigger und sie die Frau des Aufsehers. Sie war Mrs. Legree, Mrs. Mamah Borthwick Legree, und er der ihr ausgelieferte Nigger, der gleich ausgepeitscht werden würde.
    »Es tut mir leid«, sagte sie, obwohl sie gar nicht wusste, warum oder wofür sie sich entschuldigte, »dass ich ... dass ich Sie unterbrochen habe. Sie machen hier sehr gute Arbeit. Ich wollte Ihnen nur sagen ... Bei unserem ersten Gespräch ... Also, ich möchte Ihnen das hier schenken.« Sie hielt ihm das Buch hin, und ohne sich zu erheben, nahm er die Bürste in die andere Hand und griff mit der Rechten danach. Seine Bewegungen waren so langsam und überlegt, als wäre er unter Wasser. Er warf nicht einmal einen Blick auf das Buch, sondern sah ihr in die Augen, als erwartete er weitere Instruktionen. Oder irgendwelche Instruktionen.
    »Ich glaube, Sie werden die Lektüre lohnend finden«, fuhr sie fort. »Und auch erhellend, hoffe ich. Ganz gleich, was unsere jeweiligen Kulturen behaupten - die Mechanismen, die in einer Ehe wirken, sind fast überall dieselben. Und im großen und ganzen sind es die Frauen, die leiden. In unserem gegenwärtigen System - dem System, in dem wir seit unvordenklichen Zeiten leben, seit den Zeiten von Moses, wahrscheinlich seit den Ägyptern, seit den Mesopotamiern - sind die Frauen keine gleichgestellten Partner ihrer Männer und gezwungen, ein unerfülltes Leben zu führen, sei es in der Liebe oder in der Welt der Arbeit. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«
    Nichts. Er kniete vor ihr, umweht von Dämpfen.
    »Ich spreche von Gertrude. Ihrer Frau.«
    Plötzlich öffnete sich sein Gesicht. »Ach, machen Sie sich um sie keine Sorgen«, sagte er, und nun grinste er. »Das hab ich im Griff.«
    »Nein, ich glaube, Sie verstehen nicht. Sie muss lernen, sich auszudrücken.«
    Das Grinsen schwand. Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß, Ma’am. Darum bin ich ja Tag und Nacht hinter ihr her, damit sie aufhört, wie ein Buschnigger zu reden, und anständiges Englisch spricht. Und das wird sie auch. Das wird sie.« Seine Augen starrten an ihr vorbei, als spräche er zu jemandem am anderen Ende des Raums. »Das verspreche ich Ihnen.«
    Als Frank am Wochenende für zwei Tage nach Hause kam, war er mit den neuen Hausgehilfen so zufrieden wie sie. Billy Weston holte ihn eine Stunde vor dem Mittagessen vom Bahnhof ab, und er kam ins Haus wie eine kühlende Brise, nahm sie in seine Arme und tanzte mit ihr durch den Raum, bevor er ihr eine Schachtel Pralinen in die Hand drückte und in den Zeichenraum verschwand, um mit Emil und Herbert zu sprechen. Natürlich musste er unterwegs noch eine Vase von einem Regal auf ein anderes stellen und einen Sessel fünfzehn Zentimeter nach rechts und dann wieder zurückschieben - das war bei ihm wie ein Zwang -, doch der Zustand des

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