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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dort einzuziehen, Teil des Lebens von Taliesin zu werden, Teil seines Lebens, zögerte sie keine Sekunde.
    Diesmal kannte sie die Strecke schon. Zwar erschien ihr die Landschaft trostloser als zu Weihnachten, als noch das tristeste Farmhaus durch einen Kranz an der Tür oder eine Kerze im Fenster belebt worden war, doch dafür war diesmal Svetlana dabei und leistete ihr Gesellschaft. Sie aßen ihre belegten Brote, Milch für ihre Tochter, Kaffee für sie, und Svetlana plapperte mit ihrem Teddy (»Iss dein Brot, Teddy; pack deine Sachen, wir verreisen!«) oder saß konzentriert über ein Malbuch und einen Kasten Buntstifte gebeugt, die Frank ihr geschenkt hatte. Ihr ganzes Hab und Gut steckte in einem einzigen Überseekoffer, der im Gepäckwagen irgendwo hinter ihnen stand (es war nicht viel - ein paar Kleider, Bücher, Briefe, zwei Porzellanpuppen, ohne die Svetlana offenbar nicht leben konnte -, denn sie hatten die ganze Zeit unter Georgeis Regime gelebt, und Georgei predigte Askese*).
     
    * Milde ausgedrückt. Üblicherweise gestand er seinen Anhängern nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht zu, und die verbleibenden zwanzig Stunden verbrachten sie im Dienst ihres Meisters, in einer festen Abfolge von harter körperlicher Arbeit, »heiligen Tänzen« sowie spirituellen und psychologischen Übungen, die sie aus dem »Tod im Leben«, dem Zustand des verschlossenen Bewusstseins, erwecken sollten. Man hätte das durchaus Sklavenarbeit nennen können, doch letztlich unterschied es sich kaum von dem, was Wrieto-San von seinen Schülern erwartete, auch wenn wir im Schnitt ein, zwei Stunden länger schliefen. Außerdem tanzten wir nicht. Zumindest mussten wir es nicht.
     
    »Wie ist es denn da, Mama?« fragte Svetlana alle paar Minuten, und dann versuchte Olgivanna, sich Taliesin in Erinnerung zu rufen - es war nicht das château in Fontainebleau; es war ein weitläufiger, im Präriestil erbauter steinerner Bungalow am Rande von Spring Green, Wisconsin, und was Kultur und Unterhaltung betraf, so würden sie dort auf sich selbst gestellt sein. »Es wird dir gefallen«, sagte sie. »Bestimmt. Es ist wie - ich weiß nicht -, wie ein Schloss, nur ohne Türme und Zinnen.«
    Die Buntstifte flogen über das Papier, gutes, festes Zeichenpapier, das nicht so leicht zerriss. Svetlana malte erst fertig, was sie angefangen hatte - Rot für den Schornstein des abgepausten Hauses, Schwarz für den Rauch -, dann sah sie auf.
    »Was sind denn Zinnen?«
    »So was wie oben auf dem Turm von Rapunzel.«
    »Oder wie in Frankreich.«
    »Genau, wie in Frankreich. Aber dieses Haus - Daddy Franks Haus - hat weder Türmchen noch Zinnen.«
    »Was hat es denn dann?«
    Sie wollte sagen, dass es Seele hatte, Charakter, Atmosphäre, Schönheit, dass es eines jener Häuser war, in denen man sich schon wohl fühlte, wenn man einfach nur drinnen war und hinausblickte, doch statt dessen sagte sie: »Es hat einen See.«
    »Zum Schlittschuhlaufen?«
    »Ja. Und im Sommer« - sie versuchte es sich vorzustellen, die Felder zum Leben erwacht, die Stalltüren weit offen, das Vieh auf der Weide, Glühwürmchen in der Nacht, darüber die Sternbilder, an den Dachsparren des Himmels aufgehängt - »können wir schwimmen. Und mit dem Boot rausfahren. Und angeln.«
    »Gibt es da auch Enten?«
    »Bestimmt. Und Gänse.« Sie mutmaßte jetzt, eilte sich selbst voraus, während der Zug durch den klirrenden Frost über der offenen, weiten Landschaft rollte, fünfundzwanzig, dreißig Grad unter Null, die Flüsse wie Stein, die Bäume unter Schock, kein Lebewesen, das sich in dieser lieblosen Weite regte. »Und Schwäne. Schwäne, die ganz dicht herangeschwommen kommen und dir Mais aus der Hand fressen. Erinnerst du dich noch an die Schwäne in Fontainebleau, diese schwarzen?«
    Jetzt hörte Svetlana auf zu zeichnen, zwei Buntstifte - der grüne und der braune - ragten wie Stacheln zwischen den Fingern ihrer Linken auf, während der rote über dem Schornstein des breiten Dachs schwebte, unter das sie die zwei Strichmännchen gezeichnet hatte, nur zwei: Mutter und Tochter in den gleichen dreieckigen Röcken.
    Einen Moment lang blickte sie abwesend drein, vielleicht sah sie die beiden Schwäne, Lionel und Lisette - so hatten sie sie doch genannt, oder? -, vielleicht war sie auch einfach nur müde. Jedenfalls fragte sie: »Sind wir bald da?«
    Frank und Kameki erwarteten sie auf dem Bahnsteig, Atemwölkchen vor dem Mund, den Hut tief in die Stirn gedrückt, den Kragen

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