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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Schlafwagenschaffner den Kopf zur Tür herein, und wenn sie im Speisewagen angesprochen wurde, versuchte sie zu antworten, und sei es auch nur aus Höflichkeit, aber die Themen (die Qualität des Essens, die Bequemlichkeit und Schnelligkeit von Bahnreisen, irgend etwas, das der Schwester von irgend jemandem in Omaha zugestoßen war) interessierten sie nicht. Thanksgiving fiel auf den letzten Tag der Reise, und obwohl der Koch sich redlich mühte und die Kellner ihr Bestes taten, damit der Truthahn mit Kastanienfüllung, der Kartoffelbrei, die Sauce und die Erbsen mit Perlzwiebeln aussahen und schmeckten wie hausgemacht und im Kreis der Familie genossen, war es ein trauriger Schwindel, und alle im Speisewagen wussten es. Das Gelächter war schrill, die Versuche, geistreich zu sein, waren so fad wie der Kuchen mit Eis. Sie ließ das Dessert stehen und zog sich in ihr Abteil zurück.
    In dieser Nacht schlief sie kaum, ihre Gedanken rasten im Takt mit dem unablässigen Hämmern der Räder auf den Schienen. Franks Gesicht stieg vor ihr auf wie ein Korken im Rinnstein, Frank, der sie angrinste, sie verspottete, Frank, dessen Bild sich vor den Anblick des äußerst attraktiven alleinreisenden Herrn im Nachbarabteil schob, der sie jedesmal, wenn sie sich im Gang an ihm vorbeigedrückt hatte, mit einem langen Blick voll Staunen und Sympathie bedacht hatte, denn schließlich war sie immer noch eine begehrenswerte Frau, höchst begehrenswert, eine Frau mit Geschmack, Klasse und Bildung, die hundert Tänzerinnen wert war, tausend, ganze Truppen von Tänzerinnen ... Frank, Frank, Frank ... Frank, der arrogant und großspurig auf den Straßen von Chicago einherstolzierte, Frank, der mit verzückt geschlossenen Augen seinen nackten weißen Hintern auf und ab bewegte - über einer anderen Frau. Einer Tänzerin. Einer Ausländerin.
    Olgivanna Milanoff, das war der Name, den der Detektiv ihr genannt hatte. Olgivanna Milanoff. Sie sprach den Namen im Dunkeln laut aus, nur um seinen bitteren Geschmack auszukosten. Der Wagen schaukelte, fuhr ruhiger, schaukelte wieder. Gesichtslose Bahnhöfe glitten in der Nacht vorüber, jeder ein Vorposten, von einer einzigen nackten Glühbirne beleuchtet, während die Räder unter ihr ratternd die Geschwindigkeit markierten, Milanoff, Milanoff, und nun wurde sie von einer Traurigkeit erfasst, wie sie sie noch nie erlebt hatte, nicht einmal als Emil in dem stillen Empfangszimmer des Nervenarztes zu ihr zurückgekommen war und ihr eine eiskalte Hand auf die Schulter gelegt hatte. Es war, als hätte man ihr das Herz verätzt. Diese Frau - diese Tänzerin - war schwanger von ihm, schwanger. Trug seinen Samen in sich, sein Kind. War es das, was er gewollt hatte - noch ein Kind?
    Das wäre ihr neu. Denn bei Frank und ihr hatten Kinder nie zur Debatte gestanden - sie waren beide über vierzig, als sie sich kennenlernten, hatten erwachsene Kinder, und ihre Verbindung war von Anfang an auf einer höheren Ebene angesiedeltgewesen.
    Sie waren Gefährten, Seelenverwandte gewesen. Nicht nur Fortpflanzungsmaschinen wie alle anderen. Sich fortpflanzen konnte jeder - man denke nur an die Bauern mit ihren Scharen schmutziger, zerlumpter Kinder, die in der ewigen Hoffnung auf eine Münze oder Brotkruste mit aufgesperrtem Mund die Hand ausstreckten -, und die Welt war schon jetzt zu klein für all diese Münder, all diese Hände. Und Frank hatte ihre Meinung geteilt. Oder war das nur Opportunismus gewesen?
    Aber großer Gott, er ging ganz schön zur Sache, sichtlich froh, sie los zu sein, ihr den Rücken kehren und sich eine Jüngere suchen zu können, eine Hübsche, Naive, Ungeformte, in die er sich ergießen konnte, die er zurechtbiegen, bearbeiten, formen konnte, so wie er sie niemals hätte formen können. Nun, ihr tat die Frau leid. Und sie konnte ihn ruhig haben, diese Olgivanna, diese Russin oder was immer sie war, sie konnte ihren Frank Lloyd Wright ruhig haben, diesen großen Mann mit seinen Herrscherallüren, der doch in Wirklichkeit der käuflichste, schmutzigste und unerträglichste Feigling war, den sie kannte - und ein Lüstling, ein Lüstling noch dazu In Chicago war es kalt und klar, die talgfahle Sonne hing tief über den Häusern und Fabriken, den schattenhaften Monolithen der Wolkenkratzer. Die Taxifahrt führte durch ruhige Straßen, andere Wagen glitten vorüber wie losgemachte Boote, Menschen schauten stumpf hinter ihren Vorhängen hervor oder trotteten aneinander vorbei, als wäre die Sprache noch

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