Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
Vom Netzwerk:
Eisen« bedeutete. Im Wartesaal saßen drei Leute, darunter eine Farmersfrau mit Kopftuch, die in dem Korb zu ihren Füßen irgendein halbverdecktes Tier hatte.
    Miriam bestand darauf, dass Myra zuerst ging - das müsse doch ein wahrer Alptraum sein, schwanger an so einem Ort, bei dieser Hitze, in diesem Auto -, und dann starrte sie eine halbe Ewigkeit an die Wand und lauschte dem Plätschern hinter der Tür. Es war Juni. Heiß. Schwül. Die Zeit der Insekten. Sie waren überall, krochen die Wände hoch, hingen an der Decke, schwirrten um den Fahrkartenschalter herum, als wäre das der einzige Ort auf dieser Welt, wo sie atmen, ihre Flüssigkeiten absondern und aufeinanderkrabbeln konnten, um noch mehr Insekten zu produzieren. In der Ferne - vielleicht sogar über Taliesin - rollte Donner.
    Als Miriam an der Reihe war, schloss sie ab, zündete sich eine Zigarette an und zog dann sofort das Etui aus ihrer Handtasche. Sie brauchte etwas - nicht viel, nicht ihre übliche Dosis, nur ein Quentchen -, um ihre Nerven zu beruhigen. Es war nicht mehr weit, gut zwanzig Kilometer vielleicht, und bei dem Gedanken daran, Frank gegenüberzutreten, wurde ihr flau im Magen. In einem Winkel ihres Bewusstseins sah sie ihn auf die Knie sinken und sie um Verzeihung bitten, erneut um sie werben, so wie ganz am Anfang, als er alles dafür gegeben hätte, sie zu berühren, überall brannten Lampen und Kerzen und alles war von dem besonderen Glanz der großen Kunstwerke und auch der großen Geister an diesem Ort erfüllt, die kleine Russin geschasst, durch die Hintertür fortgejagt mitsamt ihrem Gepäck und ihren Kindern, während Hausherr und -herrin sich zum klagenden Klang der Violinen vom Grammophon - oder nein, zuJazz, dem Jazz, für den sie schwärmte und der ihm gleichgültig war - stürmisch liebten. Doch in einem anderen Winkel - einem Winkel, der unverhältnismäßig anwuchs, einem rasch sich ausdehnenden Raum in ihrem Schädel, der bald von pulsierenden Farbwolken erfüllt war, dem Rot des Hasses, dem Grün des Neids -wusste sie, dass sie sich auf ihn stürzen würde, sobald sie durch die Tür getreten war.
    Sie würde ... sie würde ... Sie schaute nach unten und sah, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte und die Pravaz immer noch in ihrem Oberschenkel steckte, die Haut um einen einzelnen hellen Blutstropfen ein wenig angehoben.
    Den Rest der Fahrt erlebte sie wie im Nebel. Sie machten einen Abstecher nach Dodgeville, der Bezirksstadt, um die Klageschriften einzureichen, die Mr. Jackson vorbereitet hatte, und einen Haftbefehl gegen Frank und, damit sie sich nicht übergangen fühlte, auch einen gegen die kleine Russin zu erwirken, wegen unsittlichen Verhaltens. Möglicherweise hatte sie den Friedensrichter mit dem falschen Namen angeredet, und dann war da auch noch irgendwas mit einem Hund, aber letztlich tat das alles nichts zur Sache: Sie hatte die Klagen eingereicht, und der Sheriff war aufgefordert worden, die Haftbefehle zu vollstrecken. Die Straße machte eine Biegung, fiel ab, machte wieder eine Biegung. Überall waren Gänse, Enten und Hühner. Ab und zu schlug etwas gegen die Fenster. Der Motor dröhnte.
    Die Unterhaltung wurde lebhafter, als sie sich Taliesin näherten, daran erinnerte sie sich später. Beide Männer versuchten sie zu einer Reaktion zu provozieren, fragten sie, was sie tun wolle, wenn sie dort sei, was sie über ihren Mann denke und über diese Tänzerin, die ihren Platz eingenommen habe, und einer, es war wohl der Fotograf, zog einen Flachmann hervor, »guter kanadischer Whiskey«*, wie er behauptete, gegen die Nervosität. »Es ist nie verkehrt, sich ein bisschen Mut anzutrinken«, sagte jemand, die Flasche kreiste im Auto, und der Alkohol setzte sich wie Sand in ihrer Kehle fest.
    Warum hatte sie plötzlich solchen Durst, wo doch ringsum alles versilbert war und schimmerte von der Nässe des Gewitters, das sich über ihnen entladen hatte und weitergezogen war, um den Himmel einer gewaltigen sonnengrellen Explosion von Gnade und ewigem Licht zu überlassen? Warum? Und warum erschien ihr alles so viel dichter bewachsen und üppiger als in ihrer Erinnerung, so dass sie, als der Fluss unter ihnen auf glitzerte und die langen, niedrigen goldenen Wände so unvermittelt vor ihnen erschienen, als hätten sie sich allein dadurch, dass Miriam an sie dachte, plötzlich selbst erschaffen, nichts anderes verspürte als ein Gefühl von Verlust?
     
    * Vermutlich eher ein mit Karamel gefärbter Verschnitt

Weitere Kostenlose Bücher