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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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kalt. Dreimal umrundete ich das Gebäude.
    Als ich sicher war, dass sie nicht mehr kommen würde, machte ich einen Spaziergang. Ich konnte Lydia unmöglichbitten, mich früher zu holen. Also überstand ich eine ziemlich unsinnige Unterhaltung mit einem Obdachlosen, der in der Nähe des Parks herumstreunte und mit den Sternen redete.
    – Viel zu tun?, fragte er mich, als ich schnell an ihm vorbeiging.
    – Ja, sagte ich.
    – Aber, aber … aber nicht zu viel, oder?
    – Nein.
    – Weil von zu viel wird einem nur … zu viel bringt einen nur durcheinander, die ganzen Satelliten …
    – Sicher, sagte ich.
    Er hielt die Hand auf. Ich schaute hinein. Sie war leer, also ging ich weiter. Rechtzeitig zum Ende der Oper war ich wieder am verabredeten Ort und wartete. Wenn wir uns durch einen unsinnigen Zufall verpasst hatten, würde ich sie jetzt wenigstens herauskommen sehen. Sie würde sich bei mir entschuldigen und mich fragen, wo ich denn gewesen sei, und ich würde antworten:
Hier natürlich, direkt vor deiner Nase, was bin ich doch für eine
– und ich würde sie küssen und bei ihr einziehen, noch heute Nacht.
    Menschen strömten an mir vorbei, dieselben weit entfernten, unwichtigen, unbekannten, scheintoten Menschen, die sich in den nächtlich glitzernden Windschutzscheiben der parkenden Autos spiegelten. Keiner davon war Valerie. Wieder wartete ich eine halbe Stunde. Bis niemand mehr kam.
    Neben mir hupte es.
    Für einen Augenblick dachte ich tatsächlich, Valerie fährt dasselbe Auto wie – dann fuhr das Seitenfenster herunter.
    – Komm, ich fahr dich nach Hause, sagte Lydia.
    – Was zum Teufel machst du hier?, schrie ich sie an.
    – Ich wollte sie sehen. Das ist alles. Mehr wollte ich nicht. Dass ich jetzt hier stehe, ist nur Mitleid. Komm, dir ist sicher eiskalt inzwischen.
    – Du wolltest sie sehen? Hast du den Verstand verloren? Und jetzt lauerst du mir auch noch auf!
    – Ich lauere dir nicht auf, sagte sie gekränkt. Ich will dich nur nach Hause fahren. Es ist ja niemand mehr da. Es war kaum noch mit anzusehen, wie du da auf und ab gelaufen bist.
    Ich hatte Lust, sie aus dem Wagen zu zerren und zu verprügeln. Ich machte einen mutigen Schritt auf sie zu und – hätte mich fast leise bei ihr entschuldigt. Ich atmete tief durch. Kalte Nachtluft.
    – Was geht es dich an, ob ich irgendwo in der Kälte stehe?, fragte ich.
    Meine Stimme gehorchte mir nicht mehr.
    – Alex, ganz ruhig. Du bist ja total durchgefroren.
    – Was willst du von mir?, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    – Nichts. Ich will dich nur nach Hause fahren. Das ist alles.
    Entschuldigung
, sagte die hässliche Stimme, die sich in meinem Kopf eingenistet hatte.
Für alles
. Ein seltsamer, farbloser Gedanke von der Form eines vom Himmel fallenden Zeppelins. Außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, froh und erleichtert zu sein, dass Lydia hier war (meine Zehen waren inzwischen taub und verlangten nach einem warmen Nest). Als ich neben ihr im Wagen saß, begann ich sofort von irgendetwas Belanglosem zu reden, von Wörtern, die man nicht eins zu eins übersetzen konnte. Weiß der Teufel, wie ich auf dieses Thema gekommen war. Lydia tat so, als hörte sie mir zu (und auchich tat so, als hörte ich mir zu), aber kaum hatte sie den Wagen gestartet, läutete ihr Handy und ich verstummte. Lange sagte sie nichts, das Telefon hatte sie zwischen Schulter und Kinn eingeklemmt. Mir war immer noch eiskalt, trotzdem nahm ich die Haube ab, weil ich wissen wollte, mit wem sie sprach. Aber ich hörte nur den farblosen Rest einer Stimme, dünn wie ein verbrannter Kerzendocht.
    – Aha, sagte sie. Ja. Aha.
    Ihre freie Hand drehte das Lenkrad weiter. Dann lachte Lydia plötzlich hell auf, und das Lachen klang so fremd, dass ich zusammenzuckte.
    – Wie ein Grammophon?, fragte Lydia. Um den Hals? Wie niedlich.
    Sie legte auf und warf das Handy in meinen Schoß.
    – Du sollst nicht telefonieren, wenn du fährst, sagte ich. Das ist verboten und außerdem gefährlich. Warum stellst du nicht auf Lautsprecher?
    – Musst du schon wieder mit mir streiten?, sagte sie. Ist dir beim Warten der Verstand eingefroren? Außerdem, was hast du da eben gesagt? Ich hab kurz nicht aufgepasst, weil ich mich aufs Fahren konzentriert habe.
    – Ach so, ich habe nur gesagt, ein Wort wie –
    – Was für ein Wort zum Beispiel?
    – Das Wort
Tenderness
.
    – Wieso?
Tenderness
… Zärtlichkeit … ist doch übersetzbar. Ich seh da gar nichts.
    – Aber es ist nicht

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