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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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ich kenne die überlieferte Geschichte nicht besonders gut. Und wahrscheinlich interessiert dich das auch gerade nicht. Ah, es tut wirklich gut, laut zu sprechen, die Gedanken gehen sonst immer drunter und drüber, man denkt nicht einmal normale, klar voneinander abgegrenzte Wörter. Wörter im stillen Gedankenfluss sind irgendwie hautlos, oder nur eine geschmacklose Vorform von echten Wörtern. Lautes Sprechen ist viel natürlicher als Denken. So ähnlich wie Tanzen natürlicher ist als die bloße Vorstellung von Bewegung. Es tut gut, mit dir zu reden. Ich bin seit drei Tagen zum ersten Mal wieder richtig draußen. Hm? Gerade am Rathaus vorbei. Da ist früher immer ein Pantomime gestanden, in klassischem Outfit, schwarzweiß wie ein Sträfling – Ich hab übrigens früher, als ich noch klein war, immer
Streifling
gesagt, weil die Anzüge der Verbrecher in Stummfilmen immer gestreift waren. Man denkt als Kind ja nicht daran, dass ein Gefängnisaufenthalt etwas mit
Strafe
zu tun hat. Die ganze Kindheit ist ja nichts anderes als ein Gefängnisaufenthalt, und jede Strafe ist nur eine Verschärfung des allgemeinen Zustands. Was? Ja, du hast Recht, dieses alberne Psychogequatsche, das muss man irgendwann ablegen. Schon verstanden. Nichts lieber als das. Wir können auch übers Wetter reden. Es ist kalt. Schnell bin ich heute, ich bin schon beim Dom. Ein seltsames Gebäude. Wie etwas, das eigentlich nicht erbaut werden hätte sollen, weil jemand am Tag vor Baubeginn einen schrecklichen prophetischen Albtraum gehabt hat und der Hund tot in seinem Körbchen gelegen ist, eine Reihe schlechter Omen – und trotzdem hat man diese monströse Kirche an diesem Ort gebaut, weil jede Stadt einen Dom haben muss, sonst ist sie keine Stadt. Wenn man zwischen dem Mausoleum und dem Hauptgebäude durch diese enge, namenlose Gasse geht, sieht man an der Wand so etwas wie Grabplatten. Eine muss ich dir unbedingt vorlesen.
Hie ligt begraben der edel gestreng auch hochgelerth Herr Hanns Georg Steritz beeder Rechten Doctor seeliger etc. der gestorben ist den 20. April im 1627 seines Alters bei 30 Iaren deme Gott der Herr unnd allen fromben Christen eine freliche Auferstehung genedig verleihen welle Amen. Eine fröhliche Auferstehung
, das ist wirklich schwer zu übertreffen. Was? … Ja … Ja, aha … Gut, dann dreh ich wieder um. Sicher, kein Problem. Wenn dir das lieber ist. Gehen wir eben denselben Weg wieder zurück … Wer, ich? … Ja, ich sag ja schon was. Ich wollte einfach eine Zeitlang gehen und zuhören. Außerdem juckt mich das Headset auf Dauer hinter dem Ohr. Wenn man dieses kleine Ding im Ohr hat, ist einem, als würde man ständig etwas hören, was gar nicht da ist. Ja … Ja, ich weiß … Du hast Recht, so ähnlich … Aber warum erzählst du den Menschen, ihre Ohrgeräusche hätten irgendeine Bedeutung,wenn sie doch nur Abbilder ihrer tief sitzenden Neurosen und Verzweiflungen sind? Ist das nicht … grausam? Nein? Sicher, warum sollten die Frequenzen nicht vielleicht das Entscheidende sein. Meine Mutter zum Beispiel hat immer für alles eine eigene Tonlage gehabt: Wenn sie mit mir geschimpft hat, wenn sie von der Vergangenheit erzählt hat oder einen Witz, den sie irgendwo gehört hat, oder wenn sie, was weiß ich, mit jemandem telefoniert hat, der mich nicht kannte, der vielleicht gar nicht wusste, dass sie im Alleingang einen Sohn erziehen muss – für jede dieser Situationen gab es eine eigene Tonlage und darin war die Bedeutung enthalten. Ja, die Tonlagen waren das Entscheidende. Ich habe, wenn ich meine Kopfhörer aufgehabt habe und kein Wort von dem verstehen konnte, was sie gesagt hat, trotzdem immer genau gewusst, wovon oder
von wem
sie spricht, weil der Klang ihrer Stimme, der erste Klang der Welt, auf den ich in meinem Leben konditioniert worden bin, durch jede Musik in mein Gehirn gedrungen ist. Ah … Ja, ich glaube, die Idee ist doch nicht so dumm. Immerhin existiert die Welt aus Geräuschen zwischen 20 und 20 000 Hertz und elektromagnetischen Wellen von 400 bis 800 Nanometer Länge. Für alles andere braucht man Prothesen. Das Blau des Himmels sieht man noch von allein, und auch manche seine Bewohner: die Sternbilder, die Planeten, den Mond, Aurora Borealis, zwinkernde Kometen, Perseidenschauer, Supernovae. Am Tag wirkt der Himmel weit und frei, obwohl er nichts ist als ein blauer Schleier, aber in der Nacht, da er endlich transparent wird und sich öffnet, empfinden wir ihn paradoxerweise als eng und

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