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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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allwissend, wie die unergründliche Stirn eines Großvaters. Und die Sterne, die jede Nacht an derselben Stelle stehen, sind so etwas wie der Wandschmuck im Zimmer eines verstorbenenKindes, in dem nichts verändert werden darf, für den Fall, dass es eines Tages doch noch zurückkehrt. Und ich weiß nicht, ob du das gewusst hast, aber jeder Regenbogen besitzt noch einen ganzen Haufen Nebenbögen im ultravioletten und infraroten Bereich, die unsichtbar den Himmel pflastern. Manche Vögel können diese Frequenzbereiche sehen, und vielleicht verlieren sie deshalb so häufig den Verstand. Aus Angst vor dem riesigen bunten Spinnennetz. Aber Licht macht natürlich nicht nur Vögel verrückt. Denk nur an die universelle Zweiteilung in Tag und Nacht, auf die der Mensch angewiesen ist, wenn er geistig gesund bleiben will. Je höher man in den Norden kommt, desto seltsamer und weltabgewandter werden die Menschen, und wenn man schließlich so weit ist, dass ein halbes Jahr Finsternis herrscht, dann ist es sowieso aus, dann geht gar nichts mehr, nicht einmal mehr die einfachsten Grundregeln der Kommunikation. Man braucht ausbalanciertes Licht und eine halbwegs vernünftige Geräuschkulisse, um bei Verstand zu bleiben. Und einigermaßen erträgliche Temperaturverhältnisse.
The moral quality of light
, hat John Cheever gesagt. Eine ziemlich alte und merkwürdig verschüttete Erkenntnis, aber trotzdem begreift man sie sofort. Sowas wie ein verkleidetes Naturgesetz. Das Licht, die Stimmung, die Klarheit der durch eine Taschenlampe im Mund des Erzählers angestrahlten Details – all das führt einen, wenn es zweideutig und unklar ist, in ein Niemandsland zwischen Schuld und Unschuld, Hoffnung und Aussichtslosigkeit, Über- und Unterlegenheit. Je detailreicher die Dinge unter dem Mikroskop daliegen, desto schwieriger ist es, klare Antworten auf ihre stumme Existenz zu geben. Der moralische Aspekt des Lichteinfalls ist im Grunde gleichbedeutend mit der Anwesenheit des Autors in einer Geschichte, also der Anwesenheit Gottes.Was? Ha! Ja … Gott, eine Vorform Vermeers. Stimmt, daran habe ich nie gedacht. Apropos Licht. Ich gehe gerade am
Bad zur Sonne
vorbei, hier habe ich Schwimmen gelernt. Bei einem Wahnsinnigen namens Fritz, der irgendeine Schule brutaler Pädagogik vertreten hat. Deshalb sind die Mütter reihenweise mit ihren Kleinkindern zu ihm. Selbst heute noch sitzen sie aufgefädelt neben dem Becken und schauen zu: dieselben Mütter, nicht um ein Jahr klüger geworden, vertieft in dieselben Gespräche über nebensächliche Themen, während drei Meter weiter ihre Kinder von einem Wahnsinnigen ertränkt werden. Dieselben Frauen wie damals. Ich war vor kurzem dort schwimmen, da hab ich sie gesehen. Nur der Schwimmlehrer war ein anderer, ein junger Mann, wahrscheinlich der Sohn vom alten Fritz. Denn seine Methode war die seines Vorgängers: Er hob die Kinder an den Armen hoch und wirbelte sie ins Wasser, sodass sie einen, meist eineinhalb Saltos machten und in einem unmöglichen Winkel auf dem Wasser aufklatschten, und für einen Augenblick paddelten sie vollkommen desorientiert um ihr Leben, bis ihre kleinen Köpfe gerade einmal lange genug über dem Wasser waren, dass sie Luft holen konnten. Und dann drückt sie der Verrückte wieder unter Wasser. Es gibt keine größere Rücksichtslosigkeit als die Rücksichtslosigkeit eines Pädagogen. In diesem Augenblick ist mir klar geworden, warum die Mütter so nebeneinander sitzen, brav und inaktiv, wie Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine oder leidenschaftslose, richtige Wörter in einem lateinischen Satz – warum sie nichts tun als sich über ihren Alltag zu unterhalten. Es ist derselbe Grund, aus dem Mütter ihre Kinder voll Stolz in den Krieg schicken und hinterher mit den Medaillen des gefallenen Sohnes reden, als würden die ihnen zuhören. Nicht etwa, weil sie Patriotinnenwären oder glühende Vertreter irgendeiner neuen Schwimmtheorie. Du könntest das alles viel besser … Vielleicht war eine dieser Mütter sogar deine Klientin. Schuldbewusst, reumütig und völlig verwirrt. Ein Plätschern von Chlorwasser im Ohr, das nie mehr wieder verschwinden will, solange ihr Kind unter Wasser treibt. Die verhängnisvolle Entscheidung, das Kind dem grausamen Verrückten zu überlassen, fällt in dem Augenblick, wenn er es am Handgelenk packt und mit sich fortzieht. Man kann auf zwei Arten reagieren: mit einem Schrei dazwischen springen und das Kind retten, sodass alle anderen Mütter,

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