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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Mythos des Sisyphos
, gelesen, und da steht dieser herrliche Satz über einen Mann, den man durch eine Glasscheibe beim Telefonieren beobachtet. Der Mann macht einen Haufen scheinbar sinnloser Gesten, die sein Gesprächspartner ja doch nicht sehen kann, und man fragt sich:
Warum lebt er?
Eine großartige Frage, finde ich. Warum lebe ich, ein im luftleeren Raum gestikulierender Mann auf der anderen Straßenseite? Es geht endlich weiter … Da vorne ist mein altes Stammlokal.
    Einmal bin ich da sogar mit ein paar Freunden aufgetreten. Ich am Klavier. Welche Bands spielen denn heute? Mal sehen. Ich lese dir vor:
Sexton Slave
,
Fressfeind
und
The Resurrection of Laura Palmer
. Alles derselbe Unsinn. Resurrection, Wiederauferstehung. Die zweitdümmste Jenseitsvorstellung. Willst du wissen, was die allerdümmste ist, die absurdeste? Die Unsterblichkeit der alten Ägypter. Ha, hättest du nicht gedacht, oder? Na ja, zum einen, weil sie bei denen ausschließlich eine Angelegenheit der Reichen war, und dann war sie auch noch an das Wohlergehen einer Mumie gebunden. Das muss man sich einmal vorstellen: Solange die Mumie intakt in irgendeiner finsteren Grabkammer herumliegt, ist auch die Unsterblichkeit gewährleistet, kommen Grabschänder und zerfleddern die Mumie, tja, Pech, dann ist auch die Pharaonenseele zerstört. Eine eigenartige Vorstellung. So ähnlich wie bei uns die Bücher. Solange sie noch gedruckt werden, glaubt sich der Verfasser unsterblich. Wenn er tot ist, weiß er es besser. Was? Ja. In Ordnung, anderes Thema.
    Hallo? Bist du noch dran? Ja, ich bin jetzt zuhause. Gerade angekommen … genau … Sicher, ich kann in zehn Minuten da sein … Ja, sicher … Hm? Ja, ich stehe im Moment vor dem Spiegel, warum? Wie immer, ja … Wer, ich? … Nein, ich bin nicht nackt, warum? … Mein Gesicht? … Ach, das ist ziemlich weiß …
    Ich nahm das völlig durchgeschwitzte Headset von meiner Schläfe. Noch einmal hielt ich das Telefon an mein Ohr:
    – Hallo? Oh, hallo … sicher, ja, ich bin zuhause … Du bist im Krankenhaus … Nein, Kra
nnn
kenhaus, nicht Krakenhaus … ja, ich mag Octopusse auch … lustige Tiere, können auch nichts dafür, wie sie gebaut sind …sicher … aha … ja, du bist immer noch bewusstlos und ich kann dich einfach nicht ansehen … okay … aha, ich verstehe …
    Mein Blick wurde auf einmal böse, unberechenbar – ich schleuderte das Handy gegen die Badezimmerfliesen. Es zersprang in hundert Plastiksplitter.
    Ich überlegte, ob ich schreien sollte. Aber wozu sollte ich das tun, ich war völlig ruhig. Die Plastiksplitter lösten sich in Luft auf, und ich stand wieder angezogen vor meinem gedankenverlorenen Spiegelbild, die Hände in den Hosentaschen. Das Spinnennetz, das die Spiegelfläche überzog, war dunkler geworden, der Superkleber war getrocknet.
    Mit einem Wimpernstift, den Lydia hier gelassen hatte, malte ich einen schwarzen Punkt auf den Spiegel. Ich starrte auf den Punkt, bis er immer größer wurde. Er wuchs, bis er ungefähr so groß war wie eine Münze, unscharf an den Rändern und merkwürdig weich. Wenn ich länger auf ihn starrte, würde er mich verschlucken. Ich hielt die Illusion noch eine Weile aufrecht, dann musste ich blinzeln. Der Punkt war wieder der alte. Ich wischte ihn mit dem Daumen weg. Ich streckte die Zunge heraus. Sie war belegt, als hätte ich an einem Haufen Mehl geleckt. Ich ging aus dem Badezimmer in die Küche, trank eiskaltes Wasser aus der Leitung und trat anschließend an die in vieldeutiges Schweigen gehüllte Haustür, wo ich plötzlich das Geräusch wieder hörte. Ein Poltern, drei Mal, und ein Knall.
    – Ach, verpiss dich doch!, schrie ich den Poltergeist an.
    Stille.
    Dann klopfte es.

Der schwankende Boden unter
seinen Füßen
    Gerald Katzek war am späten Nachmittag aus der Wohnung geflohen. Nach mehreren, sehr vielen Gläsern Wein hatte sich seine Mutter keinen anderen Rat mehr gewusst, als sich auf ihr eigenes Bett zu übergeben und sich hinterher hineinzulegen, grunzend und still vor sich hin weinend über ihr trauriges, hoffnungsloses, niemals zu Ende gehendes Leben. Und das war nicht einmal das Schlimmste gewesen. Mitten in ihrem Elend hatte sie auch noch freundlich und versöhnlich mit ihm gesprochen und ihn einen schlauen, verlässlichen Jungen genannt, während er nur hilflos daneben stehen und an den furchtbaren Gestank denken konnte, gegen den sie scheinbar immun war. Trotzdem war er stehen geblieben und hatte sie ihre liebevollen

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