Die Frequenzen
Sätze zu Ende sprechen lassen; es war schließlich nicht so, dass sie nur frei vor sich hin fantasiert hätte, nein, sie meinte durchaus, was sie sagte, merkte dabei allerdings nicht, dass sie mit ihrer Wange während der ganzen Zeit in ihrer eigenen Kotze lag.
Jetzt ging er durch das nächtliche Treppenhaus, wo er die Zeit oft totschlug, indem er Dinge tat, für die er noch keine Worte besaß. Zum tausendsten Mal sah er sich das Video auf seinem Handy an.
Er bedauerte inzwischen, dass er es aufgenommen hatte, denn er war süchtig danach. So wie man nach Tetris süchtig werden konnte, sodass man beim Einschlafen immer noch Blöcke sortierte, sie rotieren ließ und sogar nervös aufschreckte, wenn der lange Block in der Vorstellung nicht in die extra für ihn gebaute Spalte schlüpfte, sondern an der Kante hängen blieb. Es tat fast körperlich weh.
Okay, für heute war es genug, sagte er sich, und er sah sich das Video ein weiteres Mal an. Seine Hand zitterte, wie immer. Aber er kannte das, es war normal. Hände zitterten bei allen möglichen Anlässen. Bei der Berührung von kranken Verwandten. Beim Halten des Regenschirms auf dem Familienfriedhof mit seinen ungepflegten Grabsteinen zu der Predigt, die immer mit denselben Worten begann, als sei es jedes Mal derselbe Mensch, der in die Erde verbannt wurde. Und natürlich war das auch so, dachte Gerald, es
war
derselbe Mensch, es war
dasselbe
, sogar wenn es ein Tier war, ein Goldhamster oder ein Kanarienvogel, die beide einer Nachbarskatze zum Opfer gefallen sind und die man heimlich begräbt, noch bevor der Wecker im Nebenzimmer klingelt.
Allein, immer alles allein.
Viele traurige Worte begannen mit
al. Alltag, alt, Alkohol, Almosen, All
.
Gerald dachte an den Film, den sein Religionslehrer im Unterricht gezeigt hatte. Eine Dokumentation über Serienmörder. Anschließend hatten sie über Gut und Böse diskutiert. Und Gerald hatte lange mit sich gekämpft, ob er dem Professor
seinen
Film zeigen sollte. Wegen Gut und Böse. Aber er hatte es nicht getan, auch weil ihn die Dokumentation selbst sehr beschäftigt hatte, so sehr, dass er sich gar nicht an der Klassendiskussion, die zu einer monströsen Brainstormingwolke auf der Tafel geführt hatte, beteiligen hatte können. Die vielen, vielen Begriffe, die in der Gedankenwolke gefangen waren, wurden in der nächsten Stunde von der Biologielehrerin weggewischt und durch neue ersetzt, die überhaupt nichts mit dem Problem zu tun hatten. Das Problem war folgendes: Der Film zeigte ein Interview mit einem russischen Serienmörder, der in seinem Leben ungefähr zwanzig Menschen getötet hatte.Und dieser Mann sagte, auf irgendeine belanglose Frage des Interviewers (und Gerald konnte gar nicht anders, als sich vorzustellen, er wäre der Interviewer), dass er universelles Wissen aus dem Universum abgezapft habe, durch seine Morde und Häutungen und weiß der Teufel was. Er sei ein Pionier. Alle Mörder seien Pioniere. Sie wissen Dinge, die niemand sonst auf Erden weiß, nicht einmal ein Soldat oder ein Diktator oder jemand, der einen anderen Menschen im Affekt erschlägt. Sie wissen genau, wie sich Menschen verhalten, die getötet werden, die ihrerseits wissen, dass sie gleich sterben werden. Darauf tat der Interviewer (und Gerald an seiner Stelle, bewaffnet mit nichts als einem filzgepolsterten Mikrofon) das einzig Richtige: Er fragte nach, welches Wissen das denn genau sei. Welche geheime, universelle Erkenntnis lasse sich denn aus einem erdrosselten Kind ableiten? Der russische Mörder räusperte sich, damit Gerald nicht glaubte, er sei auf diese Frage unvorbereitet, und antwortete:
Dafür gibt es leider keine Worte. Gäbe es welche, müsste man keine Menschen ermorden
.
Als Gerald diese Szene in seinem Kopf durchspielte, überkam ihn wieder derselbe Taumel wie im Klassenzimmer. Der Boden schwankte und er befand sich auf einem Schiff, das gleich gegen einen ungeheuren Eisblock prallen würde. Alles drohte zu zerschellen, und tatsächlich zerschellte alles, die ganze Vergangenheit. Nichts ergab mehr irgendeinen Sinn.
Dafür gibt es keine Worte
. Warum? Dieser Satz war eine riesengroße Unverschämtheit! Er hätte es doch zumindest versuchen können! Er saß doch schon im Gefängnis und das mit Sicherheit lebenslänglich, also konnte er sich doch ein wenig anstrengen.
Gerald trat an das staubige Stiegenhausfenster, das auf die Straße hinaussah. Autos fuhren unten vorbei, unwissende,weltferne Metallschachteln auf
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