Die Frequenzen
Trümmerstück auf ihrem linken Augenlid explodierte.
– Ist es
so
schlimm?
Jetzt sah sie zu Boden, ihr Stuhl stand nur mehr auf den zwei vorderen Beinen. Ihr Körper war gekrümmt, als würde sie ein großes Fragezeichen verdauen. Ich fragtemich, wie viel Würde als frisch verliebte Frau sie gerade geopfert hatte, um sich hier mit mir zu treffen, einem unzugänglichen Dämon aus der Vergangenheit, der sie am Telefon unsinnigerweise als
Stalkerin
beschimpft hatte.
– Ich werde Ihnen nur so viel sagen, begann ich – sie sah auf, und eine Hand legte sich, wie um für alle Fälle die Notbremse zu ergreifen, auf ihr Feuerzeug –, ich werde Ihnen zumindest verraten, warum ich
nichts
erzählen werde, was das Verhalten meines Vaters in den letzten fünfzehn Jahren betrifft, vor allem nicht während der sieben Monate Scheidung nach seinem Verschwinden. Ich werde nichts über seinen paradoxen Lebenswandel sagen, seine Drohungen und erst recht nichts über die verschiedenen gerichtlichen Verfügungen, die gegen ihn erwirkt worden sind.
Weiter, weiter! Die Improvisation hatte begonnen.
Gerichtliche Verfügung
, sehr gut, sehr gut. Über das Gesicht von Hannelore Schnabel liefen Wellen von Selbstbeherrschung.
– Der Grund ist ein ganz eigennütziger, fuhr ich fort, denn es ist mir,
ehrlichgesaganzegal
, ob ich Sie mit den Einzelheiten in irgendeiner Weise schockieren oder irritieren würde. Vermutlich würde ich Sie noch nicht einmal schockieren, Sie würden mir einfach nicht glauben und es dabei bewenden lassen. Ein verbitterter Sohn, der sowieso einen sonderbaren Eindruck macht, und der seinen Vater wahrscheinlich einfach hasst, aus den üblichen selbstherrlichen Gründen, die junge Menschen gegen ihre Eltern vorbringen. Ja, das würden Sie denken, und daran ist wahrscheinlich auch gar nichts Verwerfliches. Nein. Es ist ein ganz anderer, ein ganz bestimmter Moment, vor dem ich mich fürchte, vor dem ich mich ekle. Wenn ich ihn mir jetzt vorstelle, erscheint er mir schon so real und unausweichlich,als wäre er bereits eingetreten. Ich wäre gerade fertig mit meiner halbstündigen Einführung in das Leben und Werk meines Vaters, hätte Schürfwunden und nächtliche Eskapaden beschrieben und wahrscheinlich meinen Selbstmordversuch mit siebzehn als Höhepunkt des vierten Akts besonders hervorgehoben. Und dann säßen wir da, Sie und ich, hier in diesem Café. Es ist Mittwoch und die Sonne scheint. Ich esse ein Eis und Sie rauchen eine Zigarette nach der anderen. Dazu tragen Sie einen Hut.
Ihre Hand verkroch sich in ihrem Schoß, wo ihre Handtasche lag, in extremer Seitenlage, wie ein kenterndes Schiff.
– Und was wäre –
– Warten Sie, unterbrach ich sie, noch habe ich Ihnen den Moment nicht erklärt, warten Sie, er wird sich gleich einstellen. Ich wäre fertig mit meiner Erzählung und dann säßen Sie einfach da und würden eine Zigarette rauchen und mir zu verstehen geben, dass das alles ja gar nicht wahr ist. Ich würde natürlich darauf beharren, und dann würden Sie Ihren Trumpf ausspielen, der in etwa lautet: Ich weiß, dass ein Körnchen Wahrheit in Ihrer Erzählung steckt, aber, wissen Sie, Ihr Vater, seit ich ihn kenne, hat er sich dermaßen ver
änd
ert, hat sich so … gefangen, wissen Sie, dass Sie ihn gar nicht wiedererkennen würden. Er ist ein anderer Mensch geworden und so weiter und so fort. Verstehen Sie jetzt, warum ich mit Ihnen nicht über ihn reden werde?
Je länger ich gesprochen hatte, desto mehr hatte sich ihr Gesichtsausdruck entspannt. Sie tippte eine Zigarette in den Aschenbecher, von der sich allerdings keine Asche löste, und sagte:
– Finden Sie nicht, dass Sie sich ein wenig unerwachsen benehmen?
– Was erwarten Sie denn? Ehrlichkeit ist immer unerwachsen.
Der Satz ergab gar keinen Sinn. Aber ich konnte es mir nicht leisten, in diesem Augenblick nicht schlagfertig zu wirken.
– Das meine ich nicht. Sicher war das ehrlich, das will ich gar nicht bestreiten.
– Gut, dann ist ja alles gut. Dann können wir uns also jetzt verabschieden und müssen uns nie wiedersehen, höchstens zu irgendwelchen Großzusammenkünften der Familie, Begräbnisse oder Taufen …
– Herrgott, hängen Sie denn so sehr an dem Bild, das Sie von Ihrem Vater haben?
Es war das erste Mal, dass sie lauter geworden war. Zum ersten Mal hörte ich ihre Stimme wirklich, so, dass ich sie später wieder erkennen würde. Die brennenden Trümmer waren von ihrem Kopf gefallen und lagen jetzt auf dem
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