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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Wort
Schwanzloch
als Erstes an –
    – Haltet die Schnauze, sagte Markus. Haltet beide die Schnauze.
    Er steckte die Zündschnur der Rakete an.
    – Spinnst du! Die zeigt doch nach innen. In den Hof! In den Hof!
    Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und hielt sie über das Balkongeländer – die Rakete zischte davon.Ich atmete Rauch ein und musste husten. Meine Augen brannten.
    – Wuuh!, schrie Markus der abgefeuerten Rakete hinterher.
    Das trockene Echo seiner Stimme bröckelte von den Nachbarhäusern, dann war es still. Markus schien fast ein wenig enttäuscht, dass sich die Umgebung durch seinen Schrei nicht in etwas anderes verwandelt hatte. Er räusperte sich und bereitete eine zweite Rakete vor.
    – Auf Paris!
    Er hielt die Flasche in den gelblichen Abendhimmel, der sich über den Dächern, hinter denen die Sonne vor ein paar Minuten verschwunden war, ausgebreitet hatte. Einige Teile der Stadt lagen bereits im Dunkeln. Ich nahm eine zweite Flasche und richtete eine Rakete auf die Nachbarschaft, eine von den ganz kleinen, die nicht explodierten, sondern nur auf einer dünnen Rauchspur davonzischten. Markus wartete mit dem Anzünden seiner Rakete, bis ich so weit war. Als beide Zündschnüre brannten, stießen wir mit den zu Raketenwerfern umfunktionierten Bierflaschen an.
    – Auf Paris!
    – Auf dass es niederbrennen möge. Stadt der Lichter.
    Die Raketen zischten davon. Markus salutierte vor dem Himmel. Im Hof hörte man den kleinen Stecken meiner Rakete aufschlagen. Die größere explodierte mit einem unschuldigen
Pop!
ein paar Meter oberhalb der Nussbäume.
    – Auf Paris, sagte Walter mit jener seltsamen Rührung in der Stimme, wie sie Männer (und nur Männer) manchmal im derben Chaos der ausgelassensten Brüllgelage überkommt.
    Unten ging ein Fenster auf und ein entsetztes, weißesGesicht erschien. Man konnte ein paar Wortfragmente der Entrüstung hören.
    – Scheiße, der Hausbesitzer, sagte ich und trat vom Balkongeländer zurück.
    – Glaubst du, er hat uns gesehen?, fragte Markus.
    – Bestimmt. Der blöde Grottenolm merkt immer alles.
    Ich bemerkte, dass meine Finger ganz schwarz geworden waren. Außerdem war meine Kehle gereizt und verlangte nach Wasser. Ich hörte, wie das empörte Fenster von Herrn Steiner unten wieder zugemacht wurde. Bestimmt würde er jeden Moment klingeln. In diesem Fall war es bestimmt nicht ratsam, die Tür mit rußgeschwärzten Fingern aufzumachen.
    – Ich glaube, ich gehe mir mal Gesicht und Hände waschen.
    – Ich geh auch rein, sagte Markus. Wird kalt hier draußen.
    Walter blieb auf dem Steinboden des Balkons sitzen.
    – Mir ist ein wenig schwindlig geworden, sagte er. Vom Rauch. Ich komm gleich nach.
    Das war das letzte Mal, dass ich Walter gesehen habe. Er ging tatsächlich für ein Jahr nach Paris, und wenn es stimmte, was man hörte, war er drauf und dran, ein großer Regisseur, Journalist und Frauenheld zu werden. Merkwürdig, man verliert Menschen so leicht aus den Augen, und wenn man sie nach Jahren zufällig irgendwo wieder trifft, sind sie einem peinlich und fremd wie altes Spielzeug.
    Früher hatten Walter und ich oft ganze Tage zusammen verbracht. In den Sommerferien streiften wir gemeinsam durch den Park und kehrten schmutzig und aufgerissen wieder zurück. An besonders stürmischen Tagen hieltenwir uns in den Innenhöfen auf und schossen mit Plastikpistolen auf kleine Raumschiffe. Wir hingen auf Wäschestangen und übten Klimmzüge, weil die Fremdenlegion unter der brennenden afrikanischen Sonne bei Kräften bleiben musste. Wir zündeten einen kleinen Strauch an, der entsetzlich stank. Und einmal landete eine kleine Propellermaschine im Hof. Darin befand sich eine winzige Gestalt, ein aufgeregt sich windendes Etwas, das aus dem Cockpit gefallen war. Die kleine Figur begann auf der Wiese im Kreis zu laufen, wie ein Stummfilmkomiker auf der Flucht vor Knüppel schwingenden Polizisten. Wir verfolgten das kleine Wesen, das ein Husarenröckchen und darüber eine moderne Fliegerjacke trug und in einer piepsenden Stimme wilde Flüche ausstieß. Walter hatte die Idee, es mit einer leeren Sektflasche, die von Silvester übrig geblieben war, einzufangen. Wir jagten den Zwergpiloten über Stock und Stein, schließlich flüchtete er sich in ein Mauseloch, das, wie wir wussten, eine Sackgasse war. Wir stopften ihn in die Flasche und trugen ihn in die Wohnung. Der Pilot zappelte wie wild. Wir schüttelten die Flasche, und der winzige Pilot mit den vielen

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