Die Freude am Leben
das Herz von Mitleid ertränkt angesichts der Verwüstung durch das Leiden, das Louise nach und nach vernichtete und aus ihrer Anmut, aus ihrem Zauber einer zarten Blondine einen entsetzlichen Gegenstand des Erbarmens machte. Es war in ihr ein Zorn gegen den Schmerz, ein Bedürfnis, ihn aus der Welt zu schaffen, so daß sie ihn wie einen Feind hätte bekämpfen mögen, wenn sie die Mittel dazu gekannt hätte.
Die Nacht jedoch verstrich, es war fast zwei Uhr. Mehrmals hatte Louise von Lazare gesprochen. Man log, man sagte ihr, er sei unten geblieben, da er selber so sehr erschüttert sei, daß er fürchtete, sie zu entmutigen. Im übrigen hatte sie kein Zeitgefühl mehr: Die Stunden vergingen, Und die Minuten erschienen ihr eine Ewigkeit. In ihrer Erregung bestand einzig das Empfinden fort, daß dies niemals aufhören werde, daß alle um sie her ihr übelwollten. Die anderen waren es, die sie nicht befreien wollten, sie ereiferte sich gegen die Hebamme, gegen Pauline, gegen Véronique und beschuldigte sie, daß sie nicht verstünden, das Richtige zu tun.
Frau Bouland schwieg. Sie warf verstohlene Blicke auf die Pendeluhr, obgleich sie den Arzt nicht vor einer weiteren Stunde erwartete, denn sie kannte die müde Langsamkeit des Pferdes. Die Erweiterung des Muttermundes mußte bald vollendet sein, der Blasensprung stand unmittelbar bevor; und sie bestimmte die junge Frau, sich niederzulegen. Dann bereitete sie sie auf das Kommende vor.
»Erschrecken Sie nicht, wenn Sie fühlen, daß Sie naß sind ... Und rühren Sie sich nicht mehr, ich bitte Sie! Ich möchte jetzt lieber nichts beschleunigen.«
Louise blieb einige Sekunden reglos liegen. Es kostete sie übermäßige Willensanstrengung, den unregelmäßigen Schmerzensausbrüchen zu widerstehen; ihr Leiden wurde dadurch heftiger, bald vermochte sie nicht mehr zu kämpfen, sie sprang von dem Gurtbett in einem unbändigen Drang aller ihrer Glieder. In demselben Augenblick, als ihre Füße den Teppich berührten, gab es ein dumpfes Geräusch, wie von einem platzenden Schlauch, und ihre Beine wurden naß, zwei große Flecken erschienen auf ihrem Morgenrock.
»Da haben wir's«, sagte die Hebamme, leise fluchend.
Obgleich Louise vorbereitet war, blieb sie zitternd auf der Stelle stehen und betrachtete dieses Geriesel, das aus ihr hervorkam, voller Schrecken, den Morgenrock und den Teppich mit ihrem Blut getränkt zu sehen. Die Flecken blieben blaß, der Strom hatte plötzlich aufgehört, sie beruhigte sich. Rasch hatte man sie wieder hingelegt. Und sie empfand plötzliche Ruhe, ein solch unerwartetes Wohlbefinden, daß sie mit dem Ausdruck triumphierender Heiterkeit sagte:
»Das war es, was mich quälte. Jetzt leide ich gar nicht mehr, es ist vorbei ... Ich wußte wohl, daß ich im achten Monat nicht niederkommen konnte. Es wird im nächsten Monat sein ... Ihr habt allesamt keine Ahnung.«
Frau Bouland schüttelte den Kopf, ohne ihr diesen Augenblick der Ruhe mit der Erwiderung verderben zu wollen, daß die Preßwehen erst kommen würden. Sie sprach nur leise mit Pauline und bat sie, sich auf die andere Seite des Gurtbettes zu stellen, um einen möglichen Sturz zu verhindern, falls die Wöchnerin sich wehren sollte. Aber als die Wehen wiederkamen, versuchte Louise nicht, sich zu erheben: Sie fand jetzt weder den Willen noch die Kraft dazu. Beim ersten Wiedererwachen des Schmerzes war ihre Haut bleifarben geworden, hatte ihr Gesicht wieder einen Ausdruck von Verzweiflung angenommen. Sie hörte auf zu sprechen, sie verschloß sich in diese endlose Qual, in der sie von nun an auf niemandes Hilfe mehr rechnete, so verlassen, so elend auf die Dauer, daß sie sogleich zu sterben wünschte. Im übrigen waren es nicht mehr die unwillkürlichen Krämpfe, die ihr seit zwanzig Stunden die Eingeweide losrissen; es waren jetzt qualvolle Anspannungen ihres ganzen Seins, Anspannungen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, die sie selber in einem unwiderstehlichen Bedürfnis, sich zu befreien, übertrieb. Das Drängen ging vom unteren Rand der Rippen aus, stieg hinab in die Lenden, führte bis zu den Leisten wie ein unaufhörlich sich erweiternder Riß. Jeder Muskel des Leibes arbeitete, spannte sich über den Hüften, zog sich zusammen und streckte sich wie eine Feder; selbst die des Gesäßes und der Schenkel waren in Bewegung, schienen sie für Augenblicke von der Matratze emporzuheben. Das Zittern verließ sie nicht mehr, sie wurde von der Taille bis zu den Knien von breiten
Weitere Kostenlose Bücher