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Die Freundin meines Sohnes

Die Freundin meines Sohnes

Titel: Die Freundin meines Sohnes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Grodstein
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nannten sie mich. Nachbarn, Menschen, die ich für Freunde gehalten hatte. Dann war irgendwann der Punkt erreicht, wo ich praktisch nicht mehr aus dem Haus gehen konnte. Fremde Menschen riefen bei meinen Eltern an, sprachen die schrecklichsten Sachen auf den Anrufbeantworter. Jemand schickte uns mit der Post ein blutiges Messer. Jemand anders schickte ein verwesendes Kätzchen. Immer wieder mussten sie ihre Telefonnummer ändern lassen, aber die Leute bekamen auch die wieder raus. Die Leute verurteilten sie, als sei es ihre Schuld. Die Leute zeigten auf der Straße mit dem Finger auf mich und schrien, ich sei eine Kindsmörderin, dabei hatten sie keine Ahnung, was passiert war oder warum es passiert war oder …«
    Ich erinnerte mich an die Zeit, an den Moment, an die Art und Weise, wie ich mich ebenfalls an dem Geflüster auf Parkplätzen, bei Veranstaltungen der Synagoge, bei Abendessen im Steak House beteiligte. Ich war für meinen alten Freund Joe nicht dagewesen. Über nichts von alldem haben wir je gesprochen. Von den Sachen in der Post hat er mir nie erzählt.
    »Der Einsamkeit zu entkommen, das ist das Schwerste.«
    Ich sah sie an.
    »Wollen Sie wissen, was ich von Ihrem Sohn brauche? Ich brauche nur seine Nähe«, sagte sie. »Der Einsamkeit zu entkommen, das ist das Schwerste. Alec hilft mir dabei.«
    »Das ist nicht seine Aufgabe«, sagte ich. »Du musst ihn gehen lassen.«
    »Ich kann nicht.«
    Nachmittags verließ ich in Rehoboth immer das wackelige Strandhaus, um den alten Männern zuzusehen, die nach Muscheln gruben. Ich ging meistens allein, aber manchmal begleitete mich auch mein Sohn, er war fünf, sechs, sieben, hockte sich nieder und zog die gespreizten Finger durch den Sand. Gelegentlich fand er ein paar Muscheln, unreife, die in seinen Händen Bläschen machten, winzig, so groß wie der Daumennagel eines Kleinkinds. Die zeigte er mir dann, die hohlen Hände vor der Nase. Komm mal, Dad, guck mal. Was glaubst du, was das ist? Kleine Muscheln, die sind noch Babys. Was sollen wir mit denen machen? Tu sie wieder rein und lass sie wachsen. Ja, so ist’s gut.
    Dieses Kind fehlte mir, mein Sohn fehlte mir.
    »Kein Mensch hat sich je so um mich kümmern mögen, wie Alec es tut«, sagte Laura.
    Und dann 1991: der Zusammenbruch der Sowjetunion, und mit der Gegenüberstellung von Gut und Böse war es aus. Man hatte keinen Kompass mehr. Aber vielleicht habe ich meinen Kompass auch später verloren. Vielleicht fing der Magnet genau in dieser Küche über einem Yoga-Studio zu spinnen an, ich weiß es nicht.
    »Warum kannst du ihn nicht einfach in Frieden lassen?«
    »Das Problem ist, mit Alec bin ich nie einsam. Er liebt mich total. Bei ihm fühle ich mich beschützt.«
    »Beschützt«, murmelte ich heiser. Bedeutete das Wort für sie das, was es für mich bedeutete?
    »Haben Sie sich jemals gefragt, warum niemand wissen wollte, wieso ich überhaupt schwanger geworden bin? Kein Mensch war daran interessiert, zu erfahren, wer der Vater war.«
    »Soweit ich mich erinnere, Laura, waren alle fassungslos. Die Leute wollten es wissen, dein Vater wollte es wissen …«
    »Mein Vater wusste es«, sagte sie. »Er war der Einzige, deres wusste. Ich hab es ihm erzählt, als ich seine Betteleien nicht mehr ausgehalten habe.«
    »Er wusste es nicht, ich habe ihn gefragt …«
    »Glauben Sie mir. Er wusste es. Oder vielmehr, er wusste, dass ich es nicht wusste. Was natürlich viel schlimmer war.«
    »Großer Gott. Laura, ist dir damals etwas passiert?« Es war wie ein Gedankenblitz. Sie war ein Teenager. Sie hatte es selbst gesagt, sie war einsam. Sie war immer allein. Vielleicht sogar in den John F. Kennedy Gardens … sie liest ein Buch, kommt spätabends an einem öffentlichen Platz vorbei …
    »Ob mir etwas passiert ist? Eine Menge ist passiert , Dr. Pete.«
    »Ich meine …«
    »Passiert ist, dass ich damals spätabends zum Grand Union gegangen bin, zu den Jungs aus der staatlichen Schule, die dort gearbeitet haben, und die durften neben der Mülltonne dann mit mir Sex haben«, sagte sie. »Beim Geruch von verfaulenden Lebensmitteln muss ich noch heute manchmal an Sex denken.«
    Ich blinzelte.
    »Ich sagte …«
    »Ich hab gehört, was Sie gesagt haben.« Na, das war ja toll. Und welchen Sinn hatte es, dass sie mir das erzählte? Welchen Sinn hatte es, dass sie mich mit dieser schmutzigen Geschichte vollmüllte? Sie wollte mich schockieren, wollte mir klar machen, dass ich mich nicht bei ihr einmischen sollte.

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