Die Freundin meines Sohnes
ging alles so schnell.«
Louis starb drei Tage später, morgens, ein halbes Jahr vor dem ersten Geburtstag seiner Tochter und vor seinem einunddreißigsten. Ich war dabei, saß in der hinteren Ecke des Krankenzimmers, während die Familie um sein Bett stand und voller Schmerz flüsternd Abschied nahm. Seine Tochter war ruhig und still, so als verstünde sie sogar mit ihren sechs Monaten die ihr ganzes Leben währende Ungeheuerlichkeit, den eigenen Vater zu verlieren. Sie griff, wie Babys das immer tun, nach seinem Finger, als er verschied.
Was macht man in so einem Fall? Was sage ich der Familie? Was kann ich für diese gebrochenen Herzen tun? Ich bin so ohnmächtig wie ein Kind. Ich kann jedem, der das will, Xanax verschreiben. Kann zuhören. Aber ich kann nicht erklären, warum das passiert ist, kann nur heimtückischen Zufall und grauenvolle Bakterien anführen, und natürlich kann ich ihnen den Toten nicht wiedergeben.
Das Schiwasitzen bei Christina und Louis zu Hause war schrecklich. Ich stand in einem der verdunkelten Gästezimmer und hielt gute zwanzig Minuten lang Steves Hände. Wir standen am Fenster, sahen hinaus in einen wunderbaren Aprilabend. Die Magnolie im Garten stand in voller Blüte, und unter den Hortensien wagten sich in dem schwindenden Licht die Kaninchen hervor. Es roch nach Essen und Schweiß in dem Raum, nach brennendem Wachs, Lysol und frischer Wäsche. Steve weinte nicht, sprach nicht, hielt nur meine Hände. Durch die dicken und doch sanften Brillengläser wirkte er noch trauriger. Es war still in dem Raum.
Juden lieben das Leben. Ärzte lieben das Leben. Es ist uns anvertraut, damit wir es bewahren, damit wir alles tun, was notwendig ist, um es zu bewahren. Ich hatte als Arzt und alsJude versagt, aber es war den Shermans nicht in den Sinn gekommen, mir einen Vorwurf zu machen.
Als es noch dunkler wurde, klopfte Shelly an die Tür und kam herein. Ich ließ Steves weiche Hände los, er nahm seine Frau in den Arm, und zusammen wiegten sie sich leicht hin und her, ihr Kopf an seinem Hals geborgen, ein langsamer, trauriger, untröstlicher Walzer.
So sehen Eltern aus, die ein Kind verlieren. Ob fünfundzwanzig Wochen alt oder dreißig Jahre, spielt für mich keine Rolle. Dieser grauenhafte Walzer: So ist es, Eltern eines Toten zu sein.
Später saß ich in der hübschen Küche der Shermans und sah in die brennende Yahrzeit-Kerze. Ich war der Letzte, der ging.
Laura Sterns Prozess rückte näher. Alec wurde bald neun. An einem schwülen Juliabend ging ich mit ihm zu Carvel, seinen Geburtstagskuchen holen, da sah ich Laura Stern, die ganz allein auf einer Bank vor dem Geschäft saß und ein Schälchen Schokoladen-Softeis löffelte. Die lassen sie allein raus? Durfte man sie so alleinlassen? Laura hatte ein sehr weites blaues T-Shirt an, schmutzige Sandalen, ihre Brille war verschmiert. Sie aß so kleine Löffelchen Eis, wie es nur ging, wie ein Mäuschen, holte erst tief Luft, bevor sie den Mund aufmachte. Ihre Haare waren fettig. Ihre Finger waren klein. Ohne mir wirklich bewusst zu sein, was ich tat, bugsierte ich Alec in das Geschäft, meine Hände auf seinen Schultern, lenkte unbeholfen die Blickrichtung meines Sohnes, damit er sie nicht zu sehen brauchte.
KAPITEL DREI
E s ist Abend in unserem Vorstadtparadies, und ich lese das Buch eines Autors, von dem ich noch nie zuvor gehört habe. Das eingestaubte Exemplar klemmte zwischen Futon und Wand im Atelier. Es gefiel mir, etwas zu entdecken, das Alec in seinem Zimmer zurückgelassen hat. Nicht, dass es wirklich viel oder irgendetwas davon sonderlich informativ gewesen wäre: Aknegel – meinen Sohn plagen Pickel, Haargel – ihm machen wohl auch seine Haare Kummer. Die Bücher, die Colgate-Zahnpasta, der kleine Kühlschrank, gefüllt mit Sojamilch und Kashi, der iPod, den ihm jemand zum Highschool-Abschluss geschenkt hat, nicht wissend, dass Alec bereits einen iPod mit Videofunktion besaß. In der unteren Schublade seiner Kommode ein kleiner Stapel Heavy-Metal -Zeitschriften, in denen es, wie sich herausstellt, gar nicht um Musik geht, sondern um eine seltsame Hybride von Science Fiction und Titten. Und dieses Buch, das ich gerade überfliege, melancholische und schlecht geschriebene Kurzgeschichten über Männer, die die Gesellschaft ablehnen und in Wäldern leben. Gauguins Künstlerkolonie . Mit einer Widmung für Alec, geschrieben von einem Haley – nie gehört, den Namen –, der ihn ermuntert, es sich gutgehen zu lassen und
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