Die Freundin meines Sohnes
bei dem Thema denn so aufgebracht, Pete?«
»Warum bist du das nicht?«
»Pete«, sagte sie, weiter nichts. Und damit beendeten wir die Debatte. Elaine machte das Salatdressing. Ich deckte den Tisch und war immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Seit wie vielen Jahren waren wir nicht mehr derart unterschiedlicher Meinung gewesen? Noch dazu bei einem so grundsätzlichen Thema. Einem toten Säugling in einer Mülltonne.
Aber schon bald fiel es gar nicht mehr schwer, sich wieder auf anderes zu konzentrieren: Wir aßen zu Abend. Alec war von seinem Fußballtraining zurück, er hatte sich auf die Holzbank, die uns als vierter, fünfter und sechster Sitzplatz diente, gelümmelt und die Hälfte seiner Spaghetti schon verschlungen, als Elaine und ich gerade mal mit dem Salat fertig waren. Wir waren so glücklich, ihn zu Hause zu haben, dass wir kein bisschen an ihm herumnörgelten. Er durfte zu der Zeit noch nicht einmal unbeaufsichtigt fernsehen – nur um einen Eindruck zu vermitteln, in welcher Unschuld wir das Kind bewahren wollten.
Nach Ananas in Scheiben vor der zweiten Hälfte von Milo & Otis , nach einer Dusche, Hausaufgabenkontrolle und gemächlichem Abspülen in der Stille der abendlichen Küche wusch ich mir das Gesicht, putzte mir die Zähne und kletterte ins Bett zu Elaine, die, wie ich glaubte, schon schlief. Ich fuhr ihr über das glänzende Haar und zog mir die Decke über die Schulter. In der ersten Zeit unserer Ehe wollte ich immer, dass sie sich an mich kuschelt und zum Schlafen den Kopf auf meine Schulter und den Arm um meine Brust legt, aber das war lange vorbei. Manchmal habe ich ein Bein über sie gelegt und sie festgehalten, und wenn sie sich nachts drehen wollte,habe ich sie geweckt, gepackt, an mich gezogen und sie wie eine Anakonda gedrückt.
»Pete?« Elaines kratzige Stimme im Dunkeln.
»Ich dachte, du schläfst.«
»Hab ich auch.«
Im Winter schlief sie in langen Flanellhemden, im Juni in meinen alten T-Shirts. Ich schob die Hand nach unten, an ihr Bein.
»Glaubst du an den Himmel, Pete?«
»Was?« Ich ließ die Hand auf ihrem festen Schenkel liegen.
»Reine Neugier«, sagte sie. »Ich weiß einfach nicht, was du sagen wirst. Wir sprechen nie über so etwas.«
Mir fielen in unserem dunklen Schlafzimmer tausend Sachen auf einmal ein: ein dreißig Jahre alter Patient, eine Woche zuvor an septischem Fieber gestorben, Alec, der in die Küche gerannt kam, die Schienbeinschoner mit Dreck und Gras beschmiert, Elaines Schultern, die sich kaum wahrnehmbar rhythmisch bewegten, wenn sie Karotten zerkleinerte. Ihr weiches blondes Haar. Joes Gesicht blitzte auf, die Zickzack-Träne auf seiner Wange.
»Manchmal an den Himmel«, sagte ich. »Manchmal an die Hölle.«
»Ich glaube an den Himmel«, sagte Elaine, und vielleicht zog ich sie deshalb an mich. Hielt sie fest im Arm. »Und ich glaube an die reine Seele«, murmelte sie an meine Brust. »Und daran, dass wir alle eine haben, ganz gleich, was wir in unserem Leben gemacht haben. Ich denke viel darüber nach, seit das passiert ist. Und ich glaube daran.«
Die reine Seele kam aber – meines Wissens – bei Juden nicht vor.
»Das Baby war vermutlich nicht mal lebensfähig«, sagte ich, mein Mund dicht vor ihrem Haar. »Falls dir das solche Sorgen macht. Es spielt keine Rolle, was Laura mit dem Kindgemacht hat, es war schon verloren, als es geboren wurde. Es hätte einen Hirnschaden gehabt und wäre blind gewesen.«
Elaine schwieg eine Weile, aber ich wusste, dass sie nicht schlief. »Ich kenne Laura Stern ihr ganzes Leben lang, schon als Säugling. Weißt du noch, was für ein hübsches Baby sie war? Was sie getan hat, muss einen Grund haben. Sie hat unser Mitgefühl verdient.«
»Okay«, sagte ich. Für den Tag gab ich nach.
»Sie hat unsere Liebe verdient, genau wie jeder Mensch. Wenn es einen Himmel gibt, dann sollte es den auch für sie geben.«
Ich fragte Elaine nicht, womit sie begründete, dass unsere hiesige Kinderschädelzertrümmerin in den Himmel gehörte. Ich küsste sie lediglich auf den Kopf und staunte über ihr Weltbild und die Größe ihrer Barmherzigkeit.
Der Mann, der an septischem Fieber gestorben war, war einer der ganz wenigen Patienten, die ich in dem Jahr verloren hatte. Als Internist überwies ich, das muss ich fairerweise sagen, den Großteil der wirklich schwer Erkrankten an Spezialisten. Bei meinen Toten handelte es sich fast immer um Bluthochdruckpatienten und Diabetiker, denen ihr früher Tod bereits
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