Die Freundin meines Sohnes
»Aber er ist immer noch ein wunderbares Kind. Wir haben großes Glück gehabt.«
»Ja?«
»Ja«, sagte ich. »Sehr großes.«
»Die Highschool kann so schwierig sein«, sagte sie. »Es macht mich so wütend, wenn sich Erwachsene kaum noch daran erinnern oder so tun, als sei es dort besonders schön gewesen. Alles, was mir in meinem Leben passiert ist, hat da angefangen.« Sie schob die Hände tief in ihre Taschen und sah mich mit kläglichem Lächeln an, und ich war überrascht, dass ich ihr Lächeln erwiderte. Und dass sich etwas in mir löste, schnell und unerwartet, so wie eine Dose vom Regal fällt.
»Du bist seit damals weit gekommen«, sagte ich.
»Ja und nein. Gereist bin ich mit Sicherheit viel, ich habe gelernt klarzukommen. Ich kann mit meinen Händen arbeiten, darauf bin ich wirklich stolz. Ich kann einen Auspuff reparieren. Ich kann runde Ziegenkäse gießen. Aber«, – sie sah mich weiterhin direkt an – »egal, wie weit ich komme, egal, was ich tue …«
»Na ja«, fiel ich ihr ins Wort, »das ist lange her.«
»Ja«, sagte sie. »Und langsam bin ich in der Lage, darüber zu sprechen, und das tut mir gut. Das Komische ist, niemand will mit mir darüber sprechen. Meine Eltern natürlich nicht, warum sollten sie? Und meine Geschwister finden die ganze Angelegenheit grauenhaft. Sie erinnern sich nicht daran und wollen heute nichts davon wissen. So viele Jahre später kann ich zumindest … also, ich brauche nicht so zu tun, als sei es nicht passiert, wie es die anderen wohl alle machen.«
Sie hielt den Kopf schräg, und in diesem Augenblick sah ich in ihr nicht die Kindsmörderin, nicht die erwachsene Frau, die gerade Schwung holte, um meinem Sohn bei seinem ersten Schritt ins Erwachsensein ein Bein zu stellen, sondern ein Mädchen, das einen Alptraum durchgemacht hatte und zurückgekommen war, um wieder Teil der Gesellschaft zu werden. Ich sah das Mädchen, das ich die ganze Zeit vorgegeben hatte zu sehen.
»Und, wie geht es dir jetzt?«, fragte ich und dämpfte ein wenig die Stimme. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie. »Meistens.«
»Schön, dass du wieder da bist.«
»Danke.« Sie lächelte mich an, setzte ihre Brille wieder auf und senkte den Kopf, so als sei sie ein bisschen verlegen. Ein bisschen verlegen war ich auch. »Sie wiederzusehen, Dr. Pete, ist auch sehr schön.« Wir lächelten einander noch einmal an, und dann wandte sie sich ab, ging zu einem großenBild mit einem Leoparden, der knurrend vor einem Panther stand, und ich trat vor ein seltsames schwarzes Holzgebilde, eine weitere Darstellung des Kolonialismus? Ich wusste es nicht. Eine Art Becken, schwarz, das von geschwungenen, nach innen gefalteten Flügeln beschützt wurde, ein Stab bog sich am oberen Ende des Beckens nach innen, so als wollte er in das Becken hineinsehen, die ganze Konstruktion schaukelte vor und zurück. Ich blickte auf das Täfelchen an der Wand – was zum Teufel sollte das sein? Oh, natürlich, dachte ich und trat anerkennend einen Schritt zurück. Ich berührte das Objekt, die Wachmänner konnten mich mal, und bewunderte das sachte Hin und Her. Der Stab, an dem man ein Mobile aufhängen kann. Die Ironie entging mir nicht: eine Wiege.
Oben befanden sich Räume voller Cézannes, Van Goghs, Picassos, Matisses, und ich, der ich keine Leuchte in diesen Dingen war, atmete erleichtert auf, weil mir das, was mir gefallen sollte, tatsächlich gefiel. Iris fand mich vor einem Bild von Rousseau, einer Zigeunerin, die in der nächtlichen Wüste schläft, ein träumerisches Lächeln auf dem Gesicht, während ein Löwe sie betrachtet, vor der Frau eine Laute und ein Krug Wasser. Nicht zu realistisch, aber auf seine Art tröstlich wie ein Schlaflied. Der Mond hatte ein fröhliches Gesicht, der Löwe wirkte außergewöhnlich sanft.
»Wie findest du das?«
»Wie ich das finde?«
»Ich meine, gefällt es dir oder nicht?«
Vierunddreißig Jahre war es her, dass ich Iris zum ersten Mal gesehen hatte, sie hatte sich mit ihrem langen roten Haar, das sie offen trug, im Seminar zur Wahrscheinlichkeitsrechnung eine Reihe vor mich gesetzt, und noch immer wollte ich etwas sagen, um sie zu beeindrucken.
»Klar gefällt es mir«, sagte ich. »Auch wenn es nicht besondersrealistisch ist. Ich meine, Löwen gibt es in der Kalahari ja wohl keine.« Etwas Besseres fiel mir in der kurzen Zeit nicht ein.
»Wer sagt denn, dass das die Kalahari ist?« Sie schaute sich das Gemälde genauer an, trat ein kleines Stück
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